Oliver Twist. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.
"Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?" fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.
"Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!"
"Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist."
"Das sind gewiss diese schweren da", erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.
"Nicht immer", sagte der alte Herr lächelnd.
"Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?"
"Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen."
"Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?"
Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.
Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wusste, was das Gescheite war.
"Nun", sagte der alte Herr wieder ernst, "hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt."
"Ich danke Ihnen", entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders achtgab, da er sie nicht verstand.
"Nun, mein Sohn", fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, "du musst jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!"
"Ach, sagen Sie nur nicht, dass Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, dass ich wieder auf den Straßen herumwandern muss. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!"
"Mein liebes Kind", sagte der alte Herr gerührt, "hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlass dazu gibst."
"Nie werde ich das, niemals."
"Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, dass du es je tun wirst", versetzte der alte Herr. "Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen."
Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:
"Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, dass du dich umso mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, dass ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, dass du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben."
Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.
"Kommt er herauf?" fragte Herr Brownlow das Mädchen.
"Ja", versetzte das Mädchen. "Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken."
Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, dass Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.
"Soll ich mich entfernen?" fragte Oliver.
."Nein, du kannst hierbleiben."
In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:
"Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, das ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?" fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.
"Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben", versetzte Herr Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
"Das ist also der Junge", begann Herr Grimwig.
"Ja, das ist der Junge",. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.
"Nun, wie geht's dir?" fragte Herr Grimwig.
"Ich danke, viel besser", antwortete Oliver.
Herr Brownlow schien zu befürchten, dass sein absonderlicher Freund irgendetwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, dass sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:
"Ist es nicht ein hübscher Junge?"
"Weiß nicht", erwiderte Grimwig mürrisch.
"Wie, Sie wissen es nicht?"
"Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter."
"Und zu welchen gehört Oliver?"
"Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel."
"Nun, derartige Eigenschaften besitzt Oliver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn."
"Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere", entgegnete Herr Grimwig.
Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.
"Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich", wiederholte Hee Grimwig. "Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen."
Im Innern seines Herzens musste Herr Grimwig aber zugeben, dass Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, dass er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt