e-tot. Uwe Post
Читать онлайн книгу.und legt sie zur Seite. Strähnige Haare kleben an seiner Stirn, das speckige Grinsen zeugt von einer Selbstzufriedenheit, die schon lange nicht mehr in Frage gestellt wurde. Von außen betrachtet leidet der Mann unter einem fatalen Realitätsverlust. Von innen betrachtet aber ist das gerade erreichte neue Level ein Grund zum Feiern.
»Meine Damen, Herren und von mir aus auch diverse Perverse«, richtet er seine Ansprache ans Draußen hinterm verhängten Fenster. »Ich gratuliere mir zu Level 104!«
Beschwingt stelzt der Mann über herumliegenden Krempel hinweg zu seinem Kühlschrank. Er holt eine Bierflasche hervor, köpft sie und leert sie zur Hälfte, bevor er sich in einen quiet-schenden Sessel fallen lässt. Er greift zur bereitliegenden Mediacenter-Fernbedienung, legt die Füße hoch und prostet dem Bildschirm zu, über den gerade der Vorspann von Buffy – Im Bann der Dämonen flimmert.
Als sein großes Vorbild erneut ihre gnadenlose Jagd auf Vampire und Zombies beginnt, grinst der Mann, der sich im digitalen Jenseits Kalthor nennt, und öffnet seine Hose.
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JULIUS1
Nur eine dicke Kerze erhellt das schäbige Hinterzimmer des Rotlicht-Clubs Villa tief’ste Lust (ja, mit Apostroph).
Julius lehnt sich auf dem Sofa zurück und zündet sich eine Zigarette an. »Du hast es mir echt gut besorgt, bist dein Geld wert, echt.«
Er zieht an der Zigarette und pustet pixeligen Qualm gen Zimmerdecke. Die Simulation ist nicht besonders ausgereift.
»Früher war das alles anders«, sagt Julius bedächtig und legt sich einen Arm in den Nacken. »Du musstest früher immer ein Gummi anziehen, und zwar ein selbst mitgebrachtes. Man wusste doch nie, ob es nicht perforiert war. Und dann der Gestank …«
Julius verzieht das Gesicht. »Sogar das Rauchen war tödlich. Nein, sag jetzt nichts.«
Den Glimmstängel zwischen den Lippen, zieht sich Julius mit der freien Hand das Laken über den nackten Unterleib. »Guck nicht so«, sagt er. »Hier gibt’s nichts mehr zu sehen, er hat genug. Für den Moment. Er verarbeitet die neue Erfahrung. Weißt du, was er und ich schon alles gevögelt haben? Würdest du nicht glauben. Den Sex entdeckt habe ich mit dreizehn. Mann, war das eine geile Zeit. Morgens, mittags, abends. Meine Eltern haben mich ein paar Mal erwischt. Ich war nicht besonders vorsichtig. Junge, sagten sie, meinst du nicht, dass du etwas übertreibst? Und kannst du bitte wenigstens ein Taschentuch nehmen? Ich will nicht im Teppich festkleben.«
Jetzt muss Julius lachen und hustet sich halb tot. Die Simu ist da gnadenlos: Lachen plus Rauch in der Lunge gleich Hustenanfall.
»Die anderen Jungs und ich haben einen Wettkampf draus gemacht. Wir führten Listen. Wer es nur zweimal am Tag schaffte, hatte nach einer Woche schon sieben Punkte Rückstand. Wie hieß noch der Idiot, der in der Tabelle immer vor mir stand? Weiß ich nicht mehr. Vermutlich hat er eh geschummelt. Wir waren ja nicht dabei, wenn die anderen sich einen runterholten, man konnte also einfach alles erfinden. Ich war natürlich immer ehrlich! Ehrlichkeit währt am längsten, das haben mir meine Eltern immer eingeschärft. Wo war ich?«
Die Zigarette ist am Ende, Julius drückt sie im Ascher aus.
»Ach ja. Der Idiot an der Tabellenspitze. Er war auch der Erste, der mit Mädchen anfing. Für einen Fick gab es ab sofort zwei Punkte, fürs Wichsen nur einen. Natürlich stellte sich ziemlich schnell raus, dass er seine Dates nur erfunden hatte. Aber es stachelte den Rest von uns an. Wir balzten im Tanzkurs, auf dem Pausenhof und in kreativen Chatnachrichten. Ich wurde mal für eine Woche gesperrt, weil sich eine über ein Schwanzfoto beschwert hat. Dabei war ich so schüchtern! Ich hatte das Bild bis zur Unkenntlichkeit mit Fotofiltern bearbeitet. Im Grunde war es nur ein unscharfer, etwas länglicher roter Fleck vor schwarzem Hintergrund mit aparten Bildstörungen und drei rosa Herzchen. Mädchen mögen Herzchen, dachte ich. Als sie das Teil kurz darauf in echt sah, war sie auf etwas andere Weise erregt. Tja, so war das damals. Sie war meine erste Muschi, ich ihr dritter Schwanz. Hinterher hat sie mir erklärt, wie man es richtig macht. Ich hatte ja keine Ahnung! Zweimal durfte ich noch bei ihr rein, also insgesamt dreimal doppelte Punktzahl. Als sie genug von mir hatte – oder von meinem Schwanz, ich weiß nicht genau –, lief ich eine Weile dieser Juliane hinterher. Sie war echt süß, und sie hatte gerade unseren Tabellenführer abserviert, jedenfalls behauptete er das.«
Julius zieht die Decke höher. »Was das mit dir zu tun hat? Nichts. Und alles. Alles hängt miteinander zusammen, weißt du? Und von dem Stuhl gingen aus Blitze, Donner und Stimmen; und sieben Fackeln mit Feuer brannten vor dem Stuhl, welches sind die sieben Geister Gottes. Ja, genau, das ist aus der Offenbarung des Johannes. Die Sieben! Die Sieben ist überall. Sie ist die Summe aus der Dreifaltigkeit und den vier Elementen. Ach, das ist dir noch nicht aufgefallen? Ich sagte doch, alles hängt zusammen. Als ich Juliane mit viel Geflüster über unsere ähnlichen Namen, allgemeinem Geschleime und ehrlich gesagt einer halben Flasche Sangria in mein Bett bugsiert hatte, erfuhr ich zwei Dinge: Erstens hatte sie nie was mit Andy – ach ja, richtig, so hieß der Tabellenführer – und zweitens besaß sie einen Penis und hieß eigentlich Julian.«
Julius grinst herüber. »Ich sagte doch, alles hängt miteinander zusammen. Nein, sag nichts. Ich kenne deine nächste Frage. Die Antwort lautet: Ja. Und es war gar nicht mal schlecht. Obwohl … vielleicht hat der Sangria seinen Teil dazu beigetragen.«
Genüsslich begibt sich Julius in die Horizontale. Er sieht eine Weile dem Spiel des Kerzenlichts zu. Immerhin das ist hübsch animiert.
»Weißt du, wir Menschen sind unfähig, Gott oder das Universum zu begreifen. Wir wissen, dass alles irgendwie zusammenhängt. Aber weder wissen wir, warum, noch, was das bedeutet. Für uns. Für den Rest der Menschheit und das, was noch so kreucht und fleucht. Wenn man tot ist, ist das nicht viel anders als vorher, aber wem erzähle ich das? Es gibt auch dabei so eine Art Tabelle. Einen Wettkampf, eine Bestenliste. Gespeichert in Excel-Sheets auf den Festplatten der Engel. Immer wenn man etwas voll und ganz richtig macht, bekommt man einen Punkt. Wenn man anderen Menschen hilft zum Beispiel. Im Gegensatz zum Orgasmus-Wettbewerb aus meiner Jugend gibt es aber leider eine Zusatzregel.«
Julius reibt sich übers Geschlechtsteil, das sich unter der dünnen Decke deutlich abzeichnet. »Wenn du eine riesengroße Scheiße baust, so richtigen Bockmist – weißt du, was ich meine? –, dann bekommst du Punktabzug. Einen oder mehrere, je nachdem wie groß der Bockmist war, den du verzapft hast. Je nachdem wie viele Menschen unter deinen beknackten Taten gelitten haben oder sogar vor die Hunde gegangen sind. Tja, meine Süße, und in diesem Wettbewerb ist niemand so krachend gescheitert wie ich. Ich ziere einen Abstiegsplatz mit großem Abstand zum rettenden Ufer. Ich, hier und jetzt, bin ja nur eine digitale Kopie. Meine Seele brät längst in der Hölle, und das hat sie sich redlich verdient, keine Frage. Aber das ist ihr Problem, nicht wahr? Nicht meins.«
Julius schiebt das Laken fort. »Kommst du rüber? Ich könnte jetzt nochmal.«
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