Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.sie sprach wie diese, indem sie deren Worte wiederholte und sogar ihre Gebärden nachahmte: »Was gibt’s Neues im Ministerium?«
»Dein Freund Ramon«, sagte er scherzend, »der jeden Monat bei uns isst, wird uns verlassen, Töchterchen! Ein anderer Souschef tritt an seine Stelle.«
Sie hob die Augen zu ihrem Vater empor und sagte mit einem für ihr Alter frühreifen Mitleid:
»Noch einer also, der Dir über den Kopf geklettert ist!«
Er hörte auf zu lachen und antwortete nicht; dann brachte er das Gespräch auf ein andres Thema, indem er sich zu seiner Frau wandte, die jetzt Fensterscheiben putzte:
»Der Mutter geht’s gut oben?« fragte er.
Madame Caravan hörte auf zu reiben, wandte sich um und brachte mit einem Ruck das Häubchen, welches ihr jetzt vollständig auf dem Rücken hing, wieder in Ordnung.
»Ach ja,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »lass uns von Deiner Mutter sprechen. Sie hat mir einen netten Ärger bereitet. Denke Dir, als heute Madame Lebaudin, die Frau des Friseurs, während ich ausgegangen war, heraufkommt, um von mir ein Packet Stärke zu leihen, hat Deine Mutter sie fortgejagt und sie eine ›Bettlerin‹ geschimpft. Aber ich habe ihr meine Meinung gesagt, der Alten. Sie tat natürlich wieder, als höre sie nichts, wie immer, wenn man ihr mal die Wahrheit sagt, aber sie ist nicht tauber, weißt Du, wie ich; es ist Verstellung und weiter nichts. Der Beweis dafür ist der, dass sie sofort nach oben in ihr Zimmer gegangen ist, ohne weiter ein Wort zu reden.«
Caravan, dem diese Wendung des Gespräches peinlich war, schwieg klüglich still, zumal jetzt das Dienstmädchen meldete, es sei angerichtet. Dann nahm er, um seine Mutter hiervon zu benachrichtigen, einen Kehrbesen aus der Ecke, wo er immer ruhte, und klopfte damit dreimal an die Zimmerdecke. Hierauf ging man ins Speisezimmer und Madame Caravan jr. teilte die Suppe aus, während man auf die Mutter wartete. Diese kam jedoch nicht und die Suppe fing schon an kalt zu werden. Man begann langsam zu essen; aber als die Teller leer waren, wartete man immer noch vergebens.
»Das tut sie absichtlich«, sagte Madame Caravan ärgerlich zu ihrem Gatten, »und Du hältst ihr immer noch die Stange.«
Er fühlte sich sehr unbehaglich so zwischen zwei Lagern, und schickte Marie-Louise, um die Großmutter zu holen; dann blieb er still mit gesenkten Augen sitzen, während seine Frau mit der Messerspitze nervös an den Fuss ihres Glases klopfte.
Plötzlich öffnete sich die Türe, das Kind kam allein, schreckensbleich zurück und sagte schnell:
»Großmama liegt auf dem Fussboden!«
Mit einem Sprung stand Caravan auf, warf seine Serviette auf den Tisch und stürzte die Treppe herauf, auf der sein hastiger Schritt dröhnend widerhallte, während seine Frau, die irgend eine Bosheit ihrer Schwiegermutter vermutete, langsam und achselzuckend folgte.
Die alte Frau lag mitten im Zimmer der Länge nach auf der Erde, und als ihr Sohn sie aufrichtete, erschien sie steif und unbeweglich, ihr runzliches gelbes Gesicht war fahl, die Augen waren geschlossen, die Zähne aufeinander gepresst und alles an ihr blieb leblos.
»Meine arme Mutter, meine arme Mutter!« seufzte Caravan, der bei ihr niedergekniet war. Aber seine Frau, welche sie einen Augenblick betrachtet hatte, sagte:
»Bah! sie hat nur einen Ohnmachtsanfall; das ist alles. Sie möchte uns nur am Essen hindern, glaube mir.«
Man trug den Körper aufs Bett, entkleidete ihn und alle, Caravan, seine Frau und das Dienstmädchen begannen ihn zu reiben. Trotz aller Anstrengungen kehrte das Bewusstsein nicht zurück. Da sandte man Rosalie zum Doktor Chenet. Er wohnte am Quai nach Suresnes zu. Es war weit und man musste lange warten, bis er kam. Nachdem er sie angeschaut, beklopft und behorcht hatte, sagte er:
»Das ist der Tod.«
Von heftigem Schluchzen erschüttert warf sich Caravan auf den leblosen Körper und bedeckte krampfhaft das starre Antlitz seiner Mutter mit Küssen; dabei weinte er so heftig, dass seine Tränen wie große Wassertropfen über das Gesicht der Toten rollten.
Madame Caravan jr. fand es schicklich, auch ihrerseits Trauer zu bezeigen, und hinter ihrem Manne stehend, stiess sie verschiedene Seufzer aus, während sie sich in auffallender Weise die Augen wischte.
Caravan, dessen Antlitz noch röter war wie sonst, und dessen dünne Haare in Unordnung um seine Stirn herumhingen, war in der Tat von aufrichtigem Schmerz aufs Tiefste ergriffen.
»Aber sind Sie auch sicher, Doktor … sind Sie ganz sicher? …« wandte er sich plötzlich um. Der ehemalige Krankenpfleger trat schnell wieder heran, und indem er den Körper mit geschäftsmässiger Sicherheit betastete, wie ein Kaufmann, der eine Ware prüfen will, sagte er:
»Hier, bester Freund, betrachten Sie das Auge.«
Er schob die Augenlider zurück und unter seinen Fingern schien der Blick der alten Frau fast unverändert, vielleicht mit etwas grösserer Pupille. Caravan gab es einen Stich ins Herz und ein Zittern überfiel seinen ganzen Körper. Herr Chenet ergriff den runzeligen Arm, öffnete mit Gewalt die Finger und fuhr mit eifriger Miene, als sei er auf Widerspruch gestossen, fort:
»Aber sehen Sie sich doch nur ’mal diese Hand an; seien Sie ruhig, ich täusche mich niemals.«
Caravan stürzte sich von Neuem ganz aufgelöst auf das Bett. Er brüllte fast vor Schmerz, während seine Frau, immer leise schluchzend, die notwendigen Vorkehrungen traf. Sie schob das Nachttischchen heran, auf dem sie eine Serviette ausbreitete, stellte vier Lichter darauf, die sie anzündete, nahm einen geweihten Buchsbaumzweig hinter dem Spiegel über dem Kamin hervor und steckte ihn zwischen zwei Kerzen in ein Glas, das sie mit Weihwasser anfüllte.
Als sie so die äusseren Zurichtungen getroffen hatte, um der Toten alle Ehre zu erweisen, blieb sie gedankenvoll stehen. Der Doktor, welcher ihr bei ihren Anstalten geholfen hatte, flüsterte ihr zu:
»Es wäre besser, Caravan herauszuführen.«
Sie machte ein Zeichen des Einverständnisses, und indem sie sich ihrem Manne näherte, der auf den Knien liegend immer noch schluchzte, griff sie ihm unter einen Arm, während Herr Chenet ihn unter den anderen nahm.
Man setzte ihn zuerst auf einen Stuhl, und seine Frau suchte ihm zuzureden, während sie ihn wiederholt küsste. Der Doktor unterstützte ihre Bemühungen. Er sprach von