Die weiße Taube von Schloß Royal. Barbara Cartland
Читать онлайн книгу.Harry die Heiratserlaubnis verschafft.«
»Das klingt wirklich sehr romantisch«, sagte Nina. »Bist du aber auch überzeugt, daß du das Richtige tust?«
»Vollkommen«, erwiderte Christine. »Ich liebe Harry, und er liebt mich. Und wir sind bereit zu warten, bis ich siebzehn bin. Ich weiß aber auch, daß mich Papa und meine Stiefmutter mit dem Marquis verheiraten würden, wenn er um mich anhielte. Und das scheint er vorzuhaben.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, bestätigte Christine. »Wie Hannah mir erzählt hat, war er schon immer auf der Suche nach einer jungen, unschuldigen, unberührten Frau, die sich nicht in sein liederliches Treiben mit anderen Frauen einmischt. Meine Stiefmutter hat ihm diese schwierige Aufgabe abgenommen und präsentiert mich wie ein Kaninchen, das aus dem Zylinder hervorgezaubert wird.« Ängstlich fuhr sie fort: »Wenn ich erst einmal in Vent Royal bin, sitze ich in der Falle. Das weißt du so gut wie ich. Deshalb habe ich heute früh als erstes ein Telegramm an Harry gesandt, und er ist auch gleich gekommen. Wir haben uns nach dem Mittagessen in dem Gebüsch an der Pforte getroffen.«
»Wie konnte Harry das tun?« rief Nina.
»Es ist nichts weiter dabei. Ich habe das schon früher gemacht. Wie du weißt, hält der Drachen um zwei Uhr seinen Mittagsschlaf und erwartet von uns dasselbe. Ich schlüpfte also durch die Seitentür und hielt mich im Schatten der Bäume. Als ich bei dem Gebüsch ankam, wartete Harry hinter der Pforte.« Plötzlich strahlte Christine über das ganze Gesicht und sagte: »Er liebt mich! Er liebt mich so sehr, daß er mich nicht wieder verlieren will. Deshalb werden wir nach Rom aufbrechen, sobald ich in London bin.«
»Und wann wird das sein?«
»Morgen.« Christine klatschte vor Freude in die Hände. »Harry ist ja so klug. Er hat sofort die Gefahr erkannt, in der ich schwebe, wenn Papas Kutsche am Donnerstag hier eintrifft, um mich abzuholen, wie meine Stiefmutter in ihrem Brief ankündigt. Es wäre ungewiß, ob ich von London mit Harry fliehen könnte, da zu Hause wahrscheinlich schon die Kutsche des Marquis auf mich wartet.«
»Was willst du dagegen unternehmen?« fragte Nina.
»Harry hat im Namen von Papas Sekretär ein Telegramm an meine Stiefmutter geschickt, in dem er ihr mitteilt, daß mich Papas Kutsche schon morgen abholen werde. Aber die Kutsche, die hier ankommen wird, ist natürlich nicht die von Papa, sondern eine von Harry gemietete. Und ich fahre auch nicht zu unserem Palais am Grosvenor Square, sondern zum Familiensitz der Hawkstones. Harrys Vater ist gerade nicht in London. Von dort aus geht die Reise nach Rom.«
»Für meine Begriffe ist das alles ziemlich kompliziert«, erwiderte Nina. »Bist du auch sicher, daß man dich nicht festhält.«
»Das wäre für Harry und mich eine Katastrophe,« erwiderte Christine. »Übrigens könnte es sein, daß mir Mrs. Fontwell für die Fahrt eine Gesellschafterin aufnötigt. Deshalb wollte ich dich bitten, mich zu begleiten.«
»Aber natürlich will ich alles tun...«, begann Nina und verstummte, als Christine plötzlich aufschrie.
»Nina, ich habe eine Idee, eine brillante Idee!« sagte sie. »Aber warte einen Augenblick, ich muß noch darüber nachdenken.« In dem Bemühen, sich zu konzentrieren, legte sie die Hände an die Schläfen und sagte langsam: »Du fährst mit mir nach London, aber wir werden dem Drachen erzählen, daß ich dich als Gesellschaftsdame angestellt hätte,«
Ninas Augen wurden groß, aber sie äußerte sich nicht, und Christine fuhr fort: »Ich verspreche dir, ganz gleich, was geschieht, daß du unter gar keinen Umständen hier bleibst.« Sie schloß die Augen, um besser nachdenken zu können, und sagte dann: »Statt hierher zurückzukehren, wenn ich mit Harry abgereist bin, wirst du nach Vent Royal fahren und bei dem Marquis wohnen, bis ich verheiratet bin.«
»Was sagst du da?« fragte Nina.
»Versteh mich«, erwiderte Christine. »Ich würde mich sehr viel sicherer fühlen, und du hättest ein Dach über dem Kopf, bis ich dich von dort wegholen kann.«
»Soll ich etwa behaupten, ich sei du?«
»Das ist ganz einfach«, erwiderte Christine. »Er hat mich nie gesehen.«
»Nie gesehen?«
»Nein. Meine Stiefmutter hat dafür gesorgt. Sie ließ keine andere Frau in seine Nähe. Und wenn der Marquis zu einem Dinner kam, an dem Papa teilnahm, waren alle weiblichen Gäste alt oder häßlich. Und jetzt schickt sie mich zu ihm, weil ich das kleinere Übel bin. Sonst fände er vielleicht bald eine andere, die sie von ihrem Platz verdrängen würde - eine Frau, die schön, attraktiv und bezaubernd ist, wie es anscheinend alle seine Freundinnen waren. Es könnte aber auch sein, daß er eine naive, unschuldige Frau heiratete, auf die meine Stiefmutter keinen Einfluß hätte.«
»Ich verstehe dich«, erwiderte Nina. »Aber ehrlich gesagt, ich könnte nie deinen Platz einnehmen, da er sofort wüßte, daß ich nicht du bin.«
»Wieso denn?« widersprach Christine. »Er hat mich doch nie gesehen. Wenn er kam, wurde ich ins Schulzimmer geschickt. Aber ich habe ihn durch Gucklöcher beobachtet. Sein Benehmen war widerlich.« Wütend fuhr sie fort: »Wie ich dir schon erzählt habe, hat mir meine Stiefmutter, damit ich ihr in den Ferien nicht ins Gehege kam, eine Aufsichtsperson in Gestalt einer uralten, pensionierten Gouvernante zugeteilt. Sie war harmlos und langweilig.«
Sie seufzte.
»Wenn ich nicht manchmal bei meinen Basen in Devonshire oder bei Mamas Verwandten in Edinburgh zu Besuch gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich eines Tages wahnsinnig geworden.«
»Hattet ihr viel Spaß?«
»Und ob. Gott sei Dank erfuhr meine Stiefmutter nichts davon, sonst hätte sie mir bestimmt verboten, wieder hinzufahren«, erwiderte Christine. »Sie kann mich ebenso wenig leiden wie ich sie. Und sie verübelt es mir, daß mich Papa so gern hat.«
Nina sagte nichts. Wieder einmal dachte sie, daß Christine übertrieb, wenn es darum ging, wie sehr sie unter ihrer Stiefmutter zu leiden habe. Andererseits war sie schockiert über das, was ihr Christine außerdem erzählt hatte. Wie konnte sich eine Frau vom Rang einer Lady Lydford so benehmen? Auch der Marquis schien ein äußerst unangenehmer Mensch zu sein, den sie gar nicht erst kennenlernen wollte.
Christine spürte offenbar, daß Nina Bedenken hatte.
Sie bat: »Liebste, liebste Nina, bitte hilf mir! Wenn du es nicht tust, wird man mich sehr wahrscheinlich daran hindern, Harry zu heiraten. Du weißt ja so gut wie ich, was auf der langen Reise nach Rom alles schiefgehen kann.«
»Wie kannst du nur mit ihm allein reisen?« fragte Nina.
»Das ist ganz in Ordnung, denn Hannah begleitet mich«, erklärte Christine. »Wie du weißt, ist sie die Verkörperung von Schicklichkeit und Moral.«
Nina mußte lachen. Es war tatsächlich so.
Hannah war eine strenge Presbyterianerin, die mit den scharfen Augen eines Habichts über Christine wachte. Solange sie die Aufsicht hatte, würde nichts passieren, was auch nur im Geringsten tadelnswert war.
»Ich gebe zu, daß Hannah eine gute Anstandsdame ist«, sagte Nina schließlich.
»Zu tüchtig, wenn du mich fragst«, erwiderte Christine. »Aber sie hat Harry gern.«
»Wie alt ist er?«
»Genau siebenundzwanzig, zehn Jahre älter als ich. Er eignet sich also vorzüglich dazu, auf mich aufzupassen, wenn ich erst einmal seine Frau bin.« Christine stieß einen reizenden Seufzer aus. »O Nina, ich liebe ihn so sehr, und ich bin so glücklich, so über alle Maßen glücklich. Ich dachte, dieses Jahr würde nie vorübergehen. Ich habe mich so nach ihm gesehnt. Doch nun werden wir, wenn mein Onkel einverstanden ist, bald verheiratet sein. Vielleicht müssen wir uns auch in einem Schlupfwinkel verbergen, bis ich siebzehn bin.« Sie ergriff Ninas Hände, während sie sprach. »Darin liegt die Gefahr, wie du siehst. Sag mir also bitte, bitte, daß du mir helfen willst, Nina! Ich kann mich nicht von ihm trennen, mein ganzes Lebensglück hängt