Die Begine und der Siechenmeister. Silvia Stolzenburg

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Die Begine und der Siechenmeister - Silvia Stolzenburg


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Ausgang bleiben musste, und sobald das Gebet beendet war, ging sie zurück in den Hof. Trotz aller guten Vorsätze regte sich Neugier in ihr, als sie sah, dass sich sofort wieder kleine Gruppen aus Mägden und Knechten bildeten. Obwohl Tratsch und Klatsch im Spital mit Bußen belegt wurden, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Was gab es so Wichtiges, das alle in helle Aufregung versetzte? Wenngleich sie sich geschworen hatte, der Meisterin keinen Grund mehr zum Tadel zu geben, war ihre Wissbegier stärker als ihre Demut. Deshalb beschloss sie, sich auf den Weg in die Stube der Wöchnerinnen zu machen, da sie so an einer kleinen Traube von Mägden vorbeikam, die besonders gestenreich miteinander redeten.

      »Was ist denn passiert?«, fragte sie, als sie die Frauen erreichte.

      Einige von ihnen kicherten.

      »Hast du es noch nicht gehört?«, entgegnete eine Frau mittleren Alters, auf deren Oberlippe ein veritabler Damenbart wuchs.

      »Was?«

      »Hast du ihn in der Kirche denn nicht gesehen?«, wollte eine andere Magd wissen.

      »Wen?« Anna folgte den Blicken der Frauen, die zum Eingang der Spitalkirche starrten. Dort standen mehrere Ordensbrüder um einen Mann in ihrer Mitte herum.

      »Bruder Lazarus ist zurück!«

      Die Worte trafen Anna wie ein Schlag. »Lazarus?«, hauchte sie.

      Die Frau kniff die Augen zusammen und musterte sie forschend. »Ja. Er war in Rom. Aber das wusstest du sicher.«

      Die anderen Mägde kicherten erneut.

      Es kostete Anna beinahe unmenschliche Anstrengung, sich zusammenzureißen, damit die klatschsüchtigen Weiber ihr nicht ansahen, was für einen Sturm der Gefühle die Nachricht in ihr auslöste. Lazarus war wieder da! Das konnte nur bedeuten, dass ihm die Oberen des Ordens vergeben hatten. Freude vermischte sich mit der Furcht, dass sie sich irren könnte. Womöglich hatte man ihn zurück nach Ulm geschickt, damit der Spitalmeister sich um seine Bestrafung kümmern konnte. Sie ließ die Mägde stehen, ungeachtet der Blicke, mit denen sie sie bedachten, und überlegte, was sie tun sollte. Sie musste ihn sprechen, erfahren, wie es ihm ergangen war. Sie sehnte sich so danach, seine Stimme zu hören und ihm in die Augen zu sehen, auch wenn sie wusste, dass ihr Verlangen nach seiner Nähe sündig war. Er hatte ihr so unglaublich gefehlt!

      Einige Augenblicke verharrte sie am Rand des Brunnens, ehe sie es wagte, sich der Kirche zu nähern. Die Brüder, die Lazarus umringt hatten, zerstreuten sich allmählich und Anna flehte zur Heiligen Jungfrau, dass Lazarus in ihre Richtung blicken möge. Zuerst hatte es den Anschein als ob ihr Flehen auf taube Ohren stieß, dann wandte Lazarus sich um und sah sie direkt an. Selbst aus der Entfernung war zu erkennen, dass sein Gesicht hohlwangiger war, seine Augen tiefer lagen. Sein Blick blieb einen Moment lang an Anna haften, ehe er weiterwanderte, als habe er sie nicht gesehen.

      »Lazarus«, sagte sie so leise, dass er es unmöglich hören konnte. Sie hob die Hand, um ihm zuzuwinken.

      *

      Es kostete Lazarus beinahe übermenschliche Anstrengung, Annas Gruß nicht zu erwidern. Ihr Anblick schnitt ihm tief ins Herz und er spürte, wie das Verlangen, sie in den Armen zu halten, mit solcher Gewalt zurückkam, dass es ihn körperlich schmerzte. All die Zeit in Rom über hatte er nicht zu hoffen gewagt, sie jemals wiederzusehen, und jetzt stand sie kaum einen Steinwurf entfernt und war dennoch unerreichbar für ihn. Die Oberen des Ordens hatten ihm unmissverständlich klar gemacht, was geschehen würde, wenn er noch mal gegen die Regeln verstieß.

      »Wir haben beschlossen, gnädig zu dir zu sein, Bruder Lazarus«, hatten sie ihn informiert, als er vor sie gebracht worden war. »Du hast dir bisher nichts zuschulden kommen lassen, weshalb wir von einer Bestrafung absehen.«

      Lazarus waren vor Erleichterung die Knie weich geworden.

      »Allerdings wirst du dich zur Buße auf eine Pilgerreise begeben, deren Ziel du selbst wählen kannst.«

      Es war eine beinahe lächerliche Strafe, die Lazarus auf seinem Heimweg von Italien mühelos hinter sich gebracht hatte. Ein Brief an den Spitalmeister hatte diesem die Entscheidung des Ordens mitgeteilt, weshalb Lazarus ein zwar frostiger, aber nicht feindseliger Empfang bereitet worden war.

      »Meinetwegen kann er seinen Posten gern zurückhaben«, hatte der alte Mönch gesagt, der in seiner Abwesenheit Lazarus’ Pflichten übernommen hatte. »Ich werde zu alt dafür.« Er hatte den Kopf geschüttelt und Lazarus mit seinen sanften Augen angesehen. »Das ist etwas für einen jüngeren Bruder.«

      »Ich frage mich, ob deine Rückkehr unseren Spitalpfleger erfreuen wird«, hatte der Magister Hospitalis giftig bemerkt, bevor er Lazarus widerwillig die Hand gereicht hatte.

      Das Schlucken fiel Lazarus schwer, als er sah, wie Anna zögernd die Hand sinken ließ und ihn mit einem verlorenen Ausdruck auf dem Gesicht ansah. Einen Moment lang wirkte es, als ob sie nach ihm rufen wolle, doch sie schien sich eines Besseren zu besinnen. Lazarus sah sich verstohlen um. Der Hof war immer noch bevölkert von Insassen und Bediensteten, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als sich schweren Herzens abzuwenden und in das Gebäude zu gehen, in dem sich die Zellen der Mönche befanden. Er durfte sich Anna gegenüber nicht mehr freundlicher zeigen, als er es den anderen gegenüber tat. Wenn er zuließ, dass sie ihm wieder so nahekam wie vor seiner Abreise, würde er erneut sein Gelübde brechen, dessen war er sich sicher. Sie war unerreichbar für ihn, wenn er ihr Herz nicht freigab, stürzte er sie womöglich ins Unglück. Sie war eine wunderschöne junge Frau und sicher würde sie nicht ewig eine Begine bleiben. Früher oder später verliebte sie sich gewiss in einen respektablen Patriziersohn und gründete eine Familie. Er, Lazarus, durfte ihr dabei nicht im Weg stehen. Deshalb beschloss er, ihr so kühl wie möglich zu begegnen, ohne sie dabei vor den Kopf zu stoßen.

      Kapitel 6

      Anna starrte fassungslos auf die Stelle, an der Lazarus eben noch gestanden hatte. Was passiert war, kam ihr unwirklich vor, wie ein böser Traum. Hatte er sie nicht erkannt? Warum war er nicht zu ihr gekommen oder hatte wenigstens ihr Winken erwidert? Was war ihm in Rom widerfahren? Der abweisende Ausdruck auf seinem Gesicht war schlimmer als alles, was sie sich ausgemalt hatte. Lange Zeit, nachdem er im Hauptgebäude verschwunden war, verharrte sie wie festgewachsen auf der Stelle und rührte sich erst, als sich eine Magd mit einem Eimer näherte. Wie betäubt trat sie beiseite, um die Frau Wasser schöpfen zu lassen, während die Gedanken in ihrem Kopf wild durcheinanderwirbelten. Gab Lazarus ihr die Schuld an dem, was passiert war? Wem denn sonst?, dachte sie, wütend über sich selbst. Wer hatte ihn denn dazu überredet, mit in die Gräth zu gehen, um einer Sache auf den Grund zu gehen, die sie fast das Leben gekostet hätte?

      Sie schob die Erinnerungen, die dieser Gedanke mit sich brachte, mit einem ärgerlichen Blinzeln beiseite, und kehrte dem Brunnen den Rücken. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf zu zermartern. Wenn Lazarus bereit war, mit ihr zu reden, würde er es sie wissen lassen. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Arbeit zu verrichten, als wäre nichts geschehen. Alle anderen Gedanken waren zu schmerzlich. Sie beschloss, sich auf den Weg zu den Pfründnern zu machen, um sich von all dem abzulenken, was der Tag bisher gebracht hatte. Der Tod des Jungen und die Qualen des Mannes, dessen Beine der Wundarzt amputiert hatte, lasteten auf ihrer Seele. Immer öfter schlichen sich an manchen Tagen Zweifel ein, ob sie für das Leben einer Begine wirklich geeignet war. Vielleicht hatte ihr Bruder Jakob Recht gehabt, als er sie dazu gedrängt hatte, einen Mann aus angesehenem Haus zu ehelichen. Wäre seine Wahl nicht ausgerechnet auf den Sohn des zweiten Bürgermeisters gefallen …

      Sie schüttelte mit einem Seufzen den Kopf. Warum war sie so undankbar? Im Gegensatz zu den Armen und Bedürftigen, um die sie sich jeden Tag kümmerte, war sie in Überfluss und Sorglosigkeit aufgewachsen. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr hatte sie nichts gekannt als das Spiel. Erst dann hatte ihre Mutter ihr Aufgaben im Haushalt übertragen. Das Gebäude, in dem sie aufgewachsen war, war ein Fachwerkhaus mit mehreren Giebeln. Ein großes Doppeltor führte in eine Halle, in der sich stets Waren aus aller Herren Länder stapelten. Ihr Vater war, genau wie ihr Bruder, ein einflussreicher Kaufmann, der kostbare Stoffe, Gewürze und allerlei andere Spezereien aus dem Morgenland einführte. An den meisten


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