Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert

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Die neue Einsamkeit - Diana Kinnert


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Form der Vereinsamung führen beziehungsweise hat dies längst getan. Migranten – vor allem jene der zweiten Generation – fühlen sich oft besonders ausgeschlossen. Sie sind in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen, empfinden jedoch weder das Geburtsland ihrer Eltern noch Deutschland wirklich als ihr Zuhause. Der allseits zu vernehmende Ruf nach Integration bestätigt dies. Weil genau das Gegenteil weit verbreitete Realität ist: Die Desintegration. Und sie ist nur eine weitere Facette der Einsamkeit. Die Heimatlosigkeit.

      Doch egal, ob wir von kultureller Ausgrenzung sprechen, von Kontaktarmut, Isolierung, Verlassenheit oder sozialer Disruption: Die Vereinsamung wird gerade zu einem gesamtgesellschaftlichen Riesenthema.

      Vielleicht ist man in den Megametropolen Asiens schon viel weiter. Dort haben die Auswüchse der Vereinsamung längst bizarre – oder sollten wir sagen: moderne? – Züge angenommen. In Japan und China können sich einsame Geister zu Weihnachten in Familien einmieten, sich zum Geburtstag Gesellschaft ins Haus buchen. Fremde, die zu bezahlten Freunden werden.

      In Japan boomt das sogenannte Rent-a-friend-Business. Diverse Agenturen haben ausgebildete Schauspieler angestellt, die auf Wunsch und für hohe Gagen als Ehemann einspringen, als Statisten auf der Hochzeit, als Kumpelersatz beim Sushi-Abend. Der 36-jährige Japaner Ishii Yuichi gründete schon vor zehn Jahren die Firma Family Romance und spürte schnell, dass der Bedarf nach menschlicher Lückenfüllung nicht nur vorhanden war, sondern stetig stieg. Yuichi selbst spielte für jüngere Menschen schon den Vater, mimte bei Beerdigungen ein trauerndes Familienmitglied, weil das echte nicht existierte oder nicht zur Verfügung stand. Inzwischen sind um die 800 Laiendarsteller und Profischauspieler bei ihm unter Vertrag, darunter Kleinkinder und ältere Menschen, die als Familien-, Verwandten- oder Freundesersatz im Angebot sind.

      Die Agentur wirbt damit, für fast jede Lebenssituation einen passenden Menschen liefern zu können, und Ishii Yuichi glaubt fest daran, dass diese Sozial-Surrogate dabei helfen, Absenzen zu ertragen, fehlendes Seelengut gezielt zu ersetzen. Seinem Geschäft prognostiziert er eine blühende Zukunft. Laut Yuichi soll, wie in The Atlantic zu lesen ist, die »menschliche Interaktion à la carte« schon bald zur Norm werden.

      In Anbetracht solcher Entwicklungen mutet es naiv an, sich noch über Petitessen wie Verschwörungserzählungen oder Fake News zu echauffieren. In Fernost hat längst das Zeitalter der Fake Friends und Fake Family begonnen, denn im hoch technologisierten und mit fast 130 Millionen Menschen dicht bevölkerten Japan ist loneliness zum Ist-Zustand geworden.

      Über 15 Prozent der Japaner geben an, sie hätten außerhalb der Familie überhaupt keinen sozialen Austausch mehr. Und ebenfalls 15 Prozent der älteren Männer, von denen einige Millionen allein leben, sagen, sie würden in einem Zeitraum von zwei Wochen weniger als eine Konversation führen. In Japan spricht man von einer neuen Form des Schweigens. Von einem Ausmaß an Stille und Wortlosigkeit, das heute nicht mehr für Tugenden steht, sondern für die Ausbreitung der gesellschaftlichen Isolierung – der man mit entsprechenden Methoden jedoch längst beikommt. Und in der man in Windeseile wirtschaftliches Potenzial erkannt hat.

      Als eine Form der zivilisatorischen Entwicklung mögen es die einen betrachten, als menschliche Verarmung andere. Beide Fraktionen aber dürften zu dem selben Schluss gelangen, dass ein Homo singularis den Zustand verschärfter Vereinzelung irgendwann irgendwie kompensieren muss. Durch Krankheit. Durch Sucht. Durch Macht. Durch einen Anruf bei der Telefonseelsorge oder eben durch Placebos. Oder durch käuflich zu erwerbende Sozialstrukturen, bislang wahrscheinlich die progressivste Lösung, um menschliche Nähe wieder herbeizuzüchten.

      Wächst das Phänomen insgesamt weiter an, dürften die Auswirkungen so unabsehbar wie gravierend ausfallen. Was geschieht, wenn sich nicht nur in Europa zehn, zwanzig, dreißig, sondern am Ende Hunderte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt einsam fühlen? In welche Richtung fliegen wir, wenn die Zäsuren immer filigraner ausfallen und das Gemeinwesen zersieben? Wenn der Bürger zu einem abgenabelten Argonauten wird, der in seiner Raumkapsel durch die Neerströme der Moderne irrt? Wenn sogar Randgruppen zu Randpersonen zerfallen?

      Einige der Effekte bekommen wir bereits zu spüren: Nichtsolidarität, Misstrauen, Fremdenfeindlichkeit, Neidkultur, Abstiegsängste. Angestachelt durch Globalisierung und Digitalisierung, gespeist durch eine unmündige Individualisierung führt die versammelte Vereinsamung letztlich zu noch viel drastischeren Auswirkungen: Zu einer politischen Radikalisierung, zum Erodieren der Demokratie.

      Spätestens dann wird Einsamkeit zur Gefahr. Zum Symptom wie gleichermaßen zur Ursache einer segmentierten und sich weiter segmentierenden Gesellschaft. Der afroamerikanische Historiker Eddie Glaude beschreibt es im Fall der USA. Nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der in Minnesota unter dem Knie eines Polizisten starb, sagte Glaude: »Unser System hat eine enorme Ungleichheit hervorgebracht, hat uns alle zu selbstsüchtigen Menschen gemacht, die sich nur um Wettbewerb und Rivalität kümmern, es hat den Begriff des Gemeinwohls vernichtet und den Sinn eines sozialen Sicherheitsnetzes zerrissen.«

      Im kranksten Fall gehen aus einer solchen Segmentierung Amokläufer, Todesschützen und Selbstmordattentäter hervor. Das Ende brutaler Vereinzelungsspiralen, deren Zeuge die Welt in letzter Zeit immer öfter wurde. Bei den Massenerschießungen und Attentaten in den vergangenen zehn Jahren lagen oberflächlich zwar jeweils unterschiedliche Beweggründe vor, ein Motiv aber war immer das gleiche: Die Täter waren einsam, litten unter »social rejection«. Das jedenfalls besagt eine Studie des Psychologen und Neurowissenschaftlers Mark Leary aus Florida, die in dem Magazin Cicero besprochen wird, wo der Autor zu dem Schluss kommt: »Was sind diese Taten anderes als grausame Schreie nach Aufmerksamkeit, verbreitet auf und befeuert von den neuen Medien?«

      Schreie nach Aufmerksamkeit. Vielleicht das letzte Stadium krankhafter Einsamkeit.

      Es ist schwer, die tiefen Gründe für die Zerfaserung der Gesellschaft zu verstehen. Intellektuelle und Vordenker haben ihre Gravimeter jedoch aktiviert. Und die seismischen Wellen, die sie empfangen, stammen in ernstzunehmender Übereinkunft aus jenen Regionen, die wir getrost als die systemischen Absiedelungen des Kapitalismus bezeichnen können.

      Mit schwindelerregender Verve sind Flexibilität und Agilität zu den Gewinnerfähigkeiten deklariert worden, derweil Verwurzelung und Verbindlichkeit die Opfergestalten produzieren. Die Ausgestelltheit des konsumfordernden wie konsumtreibenden Menschen lässt nun einmal wenig Spielraum für träge Strukturen. Jede Festlegung gerät zum Nachteil, jedes Bindungsversprechen führt zum Stottern im Getriebe. Der vollwertig performende Zeitgenosse ist darum am besten aus Elasthan: Er muss dehnbar sein, beweglich und alternativgeil. Seine Bestimmung liegt im Suchen, nicht im Finden. Ein kulturelles wie historisches Gedächtnis ist ihm im Zuge dieser Mobilmachung abhanden gekommen, eine daraus resultierende Verantwortung niemals begreifbar geworden.

      Eine Abgeschnittenheit, die schwerwiegende Folgen hat. Denn es stürzen gerade Brücken ein zwischen den Generationen: Ein Todesbeil für jede moralisch und rituell verbundene Gemeinschaft. Die Forderungen von Kapital und Konsum aber sind verlässlich resolut. Entdecke die Möglichkeiten. Play on. Just do it.

      Entsprechend emsig folgen wir dem Ruf, der das eigentlich Traurige zum Ideal erkoren hat. Ein kollektiver Imperativ, dem wir besinnungslos applaudieren. Das Alleinstellungsmerkmal ist nicht mehr nur Maß der Wirtschaft, sondern längst auch das des Menschen. Bis es inzwischen jeder sein will: Einsame Spitze.

      Doch die Demokratie und ein funktionierender Staat leben zu weiten Teilen vom exakten Gegenteil dieser Losung: Keine durch rücksichtslose Performance zerstückelte Gesellschaft ist gefragt, sondern ein ständig wachsendes Gemeinwesen aus verschiedenen Milieus und Altersgruppen, aus mündigen und offen verlinkten Individuen. Bürgern, die in ihren Raumkapseln zwar eigene Wege fliegen, aber über intakte Kommunikationsgerätschaften verfügen. Im besten Fall über durchlässige Membranen, die zum allesentscheidenden Instrument werden. Zur Möglichkeit der Begegnung, zur Fähigkeit des Austauschs. Zum Ankoppeln, nicht zum Auseinanderdriften.

      Es wäre nun ein Leichtes, eine derart zerfallende Welt allein als gesellschaftsfeindliche Dystopie zu begreifen. Die Staatengemeinschaften als Flickenteppiche der Separatisten und Radikalen zu beschwören, sich die wachsenden Metropolen als Moloche voller Einzelgänger vorzustellen,


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