Lebenskreis. Hilla Beils-Müller

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Lebenskreis - Hilla Beils-Müller


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Eine für den Anderen einsetzte, egal was geschah.

      Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit blieb fortwährend bis ins Erwachsensein bestehen.

      Schalom machte sein Abitur und studierte Mathematik, Physik und Informatik an der Universität in Bonn. Annemarie erhielt eine Bürostelle beim Finanzamt in Mayen. Schalom absolvierte sein Diplom und wurde Lehrer am Gymnasium in Münstermaifeld.

      Damals, als er mit seinem Lehramt begonnen hatte, gratulierte ihm Annemarie von Herzen und prophezeite mit lieben Worten: „Schalom, irgendwann besuche ich dich während einer Mathematikstunde, sitze einfach still dabei und höre deinem Lehren zu.“

      Die Jahre zogen wie im Flug vorbei, und erst kurz vor seiner Pensionierung fielen Annemarie diese Sätze wieder ein!

      Oh je, und ach du lieber Gott, dachte sie, ich wollte doch einmal Mäuschen spielen und dem Unterricht von Schalom beiwohnen. Annemarie pochte das Herz, könnte etwa dieser innige Wunsch noch realisierbar sein, irgendwie seine wohlwollende Erfüllung finden können?

      Annemarie rief, ohne mit Schalom darüber zu sprechen, die Leiterin des Gymnasiums an, die überaus freundlich der Idee ihren Zuspruch gab, und einen heimlichen Besuch zu organisieren versprach.

      Sie rief am folgenden Tag zurück und sagte: „Frau Annemarie, kommen sie übermorgen in die Klasse zehn zum Mathematikunterricht, ich führe sie persönlich dorthin und platziere sie vor Beginn der Schulstunde ganz nach hinten, weil sie sich hinter den großen Mädels und Jungs dezent verstecken können. Dann startet ihr kleines Abenteuer und wird seinen witzigen Verlauf nehmen.“

      Annemarie bedankte sich und fieberte dem Tag entgegen.

      Mitten in der Nacht stiegen heftige Zweifel in ihrem Innern hoch und die Gedanken kreisten von Einst nach Heute.

      War ihre Idee überhaupt noch zeitgemäß und in der Lage, Schalom zu überraschen? Kam die Vergangenheit nicht entschieden zu spät, sogar irgendwie peinlich und albern daher? Interpretierte er das Ganze als blödes, kindisches Theaterstück? Die drei Fragezeichen wollten Annemarie vom Vorhaben zurückhalten. Schlussendlich fasste sie all ihren Mut und die Freundschaft zu Schalom zusammen, und dachte an den Zuspruch der Direktorin, die am kommenden Morgen auf sie warten würde.

      Pünktlich um 09:15 Uhr kam Annemarie in der Schule an, ging zum Direktorinnenzimmer und klopfte an die Tür. Die nette Dame öffnete mit einem Lächeln: „Kommen Sie, wir eilen auf dem schnellsten Weg in den Klassenraum. Frau Annemarie, ich bin so begeistert von ihrer Idee!“ Annemarie setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl ganz nach hinten, die Schüler und Schülerinnen schauten sie fröhlich und fragend an.

      Wieso erschien diese fremde ältere Dame in Begleitung der Direktorin, die beim Hinausgehen den Finger auf den Mund legte und damit um Verschwiegenheit bat?

      Fünf Minuten später öffnete sich die Tür und Schalom trat ein, setzte sich nach dem Guten-Morgen-Gruß

      an das Pult und fragte in die Runde hinein: „Wer von Euch hat die Zusatzaufgabe zu Hause gelöst? Ich bitte um Handzeichen! Wer möchte sie an der Tafel vorrechnen?“

      Annemarie versteckte sich geschickt hinter den sitzenden Mädels. Sie machte sich ganz klein, weil Schalom interessiert umherschaute.

      „Übrigens“, so sprach er weiter, „heute ist meine vorletzte Stunde in dieser Klasse vor meiner Pensionierung. Ich möchte keine Tränen sehen, denn die Schule stellt dafür keine Papiertaschentücher zur Verfügung.“

      Er grinste schelmisch und just in diesem Augenblick stellte sich Annemarie aufrecht hin und sagte: „Hallo Schalom, ich grüße dich herzlich. Ich bin, wie einst besprochen, zum Mäuschen-Spielen hergekommen!“

      Er schaute total verblüfft! Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen saß er da. Was war denn das jetzt?! Als er begriffen hatte, was mit ihm geschah, sprang er auf und ging auf Annemarie zu. Er schloss sie herzlich in die Arme. Und nun hätte ER dringend ein Taschentuch gebraucht!

      Die Überraschung war gigantisch gelungen, die Schüler applaudierten lautstark. Begeistert genossen sie die anschließenden Erklärungen zu dieser Begebenheit.

      Schalom, ihr werter Mathematiklehrer, der immer noch zu Tränen gerührt war und so überwältigt schaute, erzählte den fast erwachsenen Schülern die Wertschätzung einer guten Freundschaft.

      „Meine Cousine und ich hatten uns als Kinder versprochen, ohne Neid und Streit auszukommen. Jedem alles zu vergönnen und diese Begegnung heute spiegelt unser unbeirrbares WIR.“

      Und während er sprach, holte eine Schülerin, weil sie Geburtstag hatte, einen leckeren Kuchen hervor, der aufgeteilt wurde und köstlich schmeckte. Alle gratulierten ihr und bedankten sich herzlich.

      Hatte die Schulklasse von dem Vorhaben gewusst?

      Eher nicht, überlegten Schalom und Annemarie später, weil wirklich Alles so natürlich echt und unbeschwert wirkte. Annemarie fühlte sich sehr glücklich und erzählte Schalom von der begeisterten Direktorin.

      Eifel-Leben

      Einblick in das Eifel-Leben von Annemarie, die ärmlich wohnte, kaum Spielzeug hatte, ein Püppchen nur besaß.

      Wurst, Eier und Käse gab es nur sonntags, werktags Marmelade und Quark aufs Brot. Die Augen strahlten, wenn es Pudding oder Kuchen gab. Vieles war kärglich außer Kartoffeln, Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten. Eigentlich eine glückliche Familie, zufrieden und gesund.

      Wenn der Vater vom Krieg berichtete, dann begann er zu zittern, sein Gesicht verfinsterte sich. Menschen, so sprach er, erstickten im Zwang jener hasserfüllten Vernichtungs-Strategie.

      Acht Jahre nach Kriegsende ward Annemarie geboren im Haus der Großeltern, das vorher von Bomben zerstört am Boden lag. Mit großer Kraft bauten es die fleißigen starken Frauen wieder auf, weil sich ihre Männer noch weit fort in Gefangenschaft befanden.

      Diese Erinnerungen machen mehr als deutlich, wie kräftezehrend und ärmlich sich der Frieden anfühlte, der nach sechs Jahren errungen war.

      Ja, plötzlich war er da, der heißersehnte Frieden.

      Vorher brannten die Trümmerhäuser lichterloh, es lagen Leichen auf den Straßen und ungezählte Menschen flohen. Nur wenige kehrten zurück.

      Überall hingen Suchbilder von vermissten Personen, auch von Kindern, an Bretterwänden in der Stadt. Diese grauenvolle Realität dauerte länger als ein Jahrzehnt. Warmherzig zeigten die Menschen Mitgefühl. Einer half dem Anderen. Sie sprachen offen über die Verdunkelungs-Zeit, von heulenden Sirenen, vom lauten Beten im Bunker.

      Die Eltern von Annemarie lebten edel und gerecht. Ihnen gelang es mit Wenig statt Viel gut zu leben. Lange Zeit erzählten sie von der Angst vor der Strenge der Erwachsenen, auch in der Kirche und in der Schule. Viele Alpträume und tiefe Seelen-Narben blieben zurück.

      Als Betroffene appellierten sie flehend: Niemals wieder Völkerhass und Krieg! Für alle Zeiten muss ein *Ewiger Frieden* bestehen bleiben! Schattenkind

      Annemarie spricht aus mir. Sie erzählt mein ICH.

      Das versteckte Ich

      Als ich mich sehr

      ungerecht behandelt

      fühlte, verspürte ich

      keine Schuldgefühle.

      Es betraf den Beruf,

      dem ich zwölf Jahre

      vorgestanden bin und

      mein Allerbestes gab.

      Enttäuscht nahm ich

      Papier und Stift,

      schrieb auf, was mich

      sorgenvoll bedrückte.

      In einer Spalte daneben

      notierte ich mein

      privates Froherleben.

      Selbstbewusst ohne Hass

      kündigte


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