Der Fall Gloriosa. Johannes Wilkes
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Johannes Wilkes
Der Fall Gloriosa
Kriminalroman
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © kamera7 / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6718-9
Zitat
»Wenn die Gloriosa spricht, haben alle anderen Glocken zu schweigen.«
(Spruchweisheit aus Erfurt)
Zitat
Vivos voco.
Mortuos plango.
Fulgura frango.
Lebende rufe ich.
Tote beklage ich.
Blitze zerbreche ich.
(Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke)
Ostersonntag
Laude patronos cano gloriosa
(Ich besinge mit ruhmreichem Lob die Schutzherrn – Inschrift der Gloriosa)
Erfurt, 10.45 Uhr
Ein stiller Frühlingshimmel wölbt sich erwartungsschwanger über der Stadt. Alle Glocken schweigen, warten gespannt darauf, dass die größte von ihnen, die berühmteste, die Gloriosa, den Ostertag einläutet. So ist es Brauch seit alters her, der Gloriosa gebührt der Vorrang. Erst wenn ihr majestätisch schöner Klang die Erfurter Luft zum Vibrieren bringt, dürfen sich auch die anderen Glocken in Bewegung setzen, dürfen sie mit einfallen in das österliche Festkonzert.
Die Stadt, sie hält den Atem an, sehnt sich nach dem Signal vom Domberg, nach dem ersten Schlag der Gloriosa. Was aber ist das? Welch grässliche Töne, welch eiernder, scheppernder Lärm! Das soll die Gloriosa sein, die Göttliche, die Königin der Kirchenglocken? Unerträglich falsch hört sich das an, höhnisch schmerzt es in den Ohren, ein teuflisch-schiefes Geläut, klirrend, verzweifelt, ohne jeden Rhythmus. Als kämpfe die Glocke gegen etwas an, gegen einen geheimen Widerstand, einen Widersacher, der sich gegen ihr Schwingen stemmt.
»Nein, lasst ihn bitte noch hängen!«
Wie alt mochte der Mann sein, der da neben dem Klöppel hing? 40, vielleicht Anfang 50? Es fällt schwer, das Alter eines Menschen zu schätzen, dessen Schädel zerschmettert ist wie eine Wassermelone, die man unter ein Hammerwerk gelegt hatte.
»Unsere Gloriosa wiegt locker zehn Tonnen, das hält selbst der größte Thüringer Dickschädel nicht aus.«
Kommissar Mütze nickte und kniff die Augen zusammen. Sanft baumelte der Mann mit dem Strick um die Füße im Inneren der Glocke, den letzten Bewegungen des Klöppels folgend. Der zerquetschte Kopf schmiegte sich an das verdickte Klöppelende, die herunterhängenden Arme, von denen es rot hinablief, strichen fast über die Holzdielen und malten mit dem hinabtropfenden Blut zierliche Schleifen und Kreise auf den Boden. Der Mann war tot, mausetot, da gab es keine Zweifel, und doch, solange ein Mensch sich noch bewegt, schien eine Prise Leben in ihm zu sein.
Mütze beugte sich nieder und leuchtete mit seinem Handy in die Glocke hinein. Ganz oben, dort, wo der Klöppel aufgehängt war, hatte man den Strick befestigt. Das linke Hosenbein des Mannes war heruntergerutscht, was etwas unordentlich aussah. Zudem passten die gelb-blauen Ringelsocken nicht zu dem eleganten schwarzen Anzug. Und da war noch etwas, das nicht passte, es waren die Hände des Toten. Das waren nicht die Hände eines Anzugträgers, das waren die Hände eines Mannes, der hart anpacken musste, breit und blutig sahen sie aus, zerschunden von einer übermenschlichen Aufgabe. Unter dem Klöppel, vom Blut getränkt, lag eine weiße Nelke auf den Dielen.
Während sich Mann und Klöppel noch sacht bewegten, war die Glocke bereits zum Stillstand gekommen. Mütze besah sie sich genauer. Ein Relief zierte die Außenseite, eine Frau in einem Strahlenkranz war darauf zu sehen. Vielleicht die heilige Maria? Mütze war die katholische Heiligenkunde so vertraut wie einem Hamster der Buddhismus. Das Messing der Gloriosa war stumpf geworden im Laufe der Jahrhunderte, an zwei Stellen unten am Rand aber glänzte es, und diese Stellen lagen sich genau gegenüber. Was da glänzte, war frisches Blut.
»Die Glocke? Sie meinen wirklich, die Glocke hat ihn auf dem Gewissen?« Mütze trat dicht an den Seziertisch heran. Die abgenommene Schädeldecke neben dem zerquetschten Gehirn erinnerte ihn an ein antikes Gefäß, das man, tausendfach zerbrochen, mühsam wieder zu kitten versucht hatte.
»Alles sieht danach aus«, sagte Professor Hahnemann, ein grauhaariger Hüne, den nichts mehr erschüttern konnte. »Sehen Sie, Herr Kommissar, die inneren Organe, Herz, Lunge, Bauchraum, alles völlig unversehrt. Der Schädel hingegen, das Gehirn, ein einziger Brei. Die Glocke hat ihn erschlagen, vielleicht auch der Klöppel, wer will das entscheiden?«
»Und wenn er vorher schon tot gewesen ist? Ich meine, wenn man eine Leiche aufgehängt hat?«
»Eine Leiche hätte sich nicht gegen den Tod gewehrt«, sagte der Professor und hob eine der Hände des Toten auf. »Die Hand hier muss man sich im Original deutlich schmaler vorstellen. Schauen Sie hier.« Bei diesen Worten ließ er eine milchige Scheibe aufflammen, an der mehrere Röntgenbilder hingen. »Hier außen, das sind die Hände.«
Man brauchte kein Radiologe zu sein, um zu erkennen, was passiert war. Die feinen Fingerknochen waren vielfach gebrochen, ja, an vielen Stellen völlig zersplittert.
»Der Ärmste muss versucht haben, der Gloriosa auszuweichen. Als sie stärker zu schwingen begann, hat er vielleicht noch probiert, sich in der entgegengesetzten Richtung vom Klöppel abzustoßen und den Zusammenprall auf diese Weise zu vermeiden. Als das nicht mehr möglich war, als seine Kräfte nachließen, wollte er zumindest seinen Kopf schützen und hat seine Hände verzweifelt vor die Schläfen gehalten. Zusammen mit dem Kopf sind sie zwischen Klöppel und Glocke geraten, so lange, bis sie völlig zertrümmert waren. Das Opfer hat schließlich das Bewusstsein verloren, seine Arme sind schlaff hinabgesunken und der Kopf hat die volle Dröhnung abbekommen: dong, dong, dong!«
Mütze nickte. So konnte es gewesen sein. Wer aber ließ sich freiwillig in