Der Fall Gloriosa. Johannes Wilkes
Читать онлайн книгу.glauben, was ich mit ansehen musste. Der schwingende Körper in der Glocke, der Klöppel, der abwechselnd gegen den armen Mann und gegen die Gloriosa schlug, und dann das Blut, all das viele Blut. Am schlimmsten aber war das Bersten, als der Kopf des Mannes zwischen Klöppel und Glocke geriet, dieses furchtbare Bersten, es will nicht mehr aus meinen Ohren hinaus. Kennen Sie das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Kokosnuss fallen lässt? Furchtbar, einfach furchtbar! Ich hatte noch versucht dazwischenzugehen, aber die Macht der Glocke ist ungeheuer, ich hatte keine Chance, nicht den Hauch einer Chance. Ich konnte nur zuschauen, bis die Gloriosa endlich, endlich zum Stillstand kam.«
Mütze nickte mitfühlend und dankte Udo Binge, dass er dennoch gekommen war und ihnen nicht nur aufschloss, sondern sich sogar bereit erklärt hatte, erneut mit auf den Turm zu steigen.
»Keine Ursache, Herr Kommissar, ich hab zu meiner Gabi gesagt, man soll nicht davonlaufen, sonst wird alles nur noch schlimmer. Wenn ein Kind von einer Schaukel fällt, setzt man es doch sofort wieder darauf, verstehen Sie? Vielleicht verarbeite ich dann alles besser.«
»Und Sie sind sich sicher, dass der Turm tatsächlich abgeschlossen gewesen ist?«, fragte Mütze.
»Hundertprozentig, Herr Kommissar. Die letzte Turmführung habe ich selbst betreut, Samstag, um 16 Uhr, danach hab ich die Tür unten versperrt, ziemlich genau gegen halb fünf, dann bin ich heim zu meiner Gabi.«
»Und sonntags finden wohl keine Führungen statt?«
»Erst später, nach dem Hochamt, das heißt, heute natürlich nicht.«
»Also muss der Täter mit seinem Opfer zwischen Samstag halb fünf und dem Sonntagsgeläut auf dem Turm gewesen sein.«
»Ganz genau. Und er muss auch wieder abgeschlossen haben, die Tür ist nämlich versperrt gewesen, als ich am Sonntag das Geläut anstellen wollte. Wissen Sie, das ist das Schlimmste daran, dass ich es gewesen bin, der die Gloriosa in Gang gesetzt hat. Verstehen Sie, ich hab den armen Kerl auf dem Gewissen, ich hab ihn umgebracht.«
»Aber Sie konnten doch nicht wissen, dass ein Mensch in der Glocke hängt. Sie sind unschuldig, vollkommen unschuldig, genau wie die Glocke.«
»Ich weiß, ich weiß, wissen Sie, wie oft mir das meine Gabi schon gesagt hat? Und dennoch …« Udo Binge griff in die Tasche und zog einen altertümlichen Schlüssel hervor.
»Darf ich mal?«, fragte Mütze, nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn. Auf dem verschnörkelten Griff war eine Glocke zu sehen.
»Schön, nicht? Eine Idee unseres Herrn Bischofs, die Turmschlüssel mit dem Bild der Gloriosa zu verzieren.«
»Wer besitzt denn alles einen Turmschlüssel?«
»In unserem Pfarrbüro hängt einer, außerdem besitzt natürlich der Herr Bischof einen, auch ein paar der anderen Domgeistlichen, natürlich die Turmführer, ja, und auch die Feuerwehr hat einen.«
»Hat jemand seinen Schlüssel als vermisst gemeldet?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Braunkärsch, könntest du das überprüfen?«
»Aber klar doch.«
»Okay, gehen wir!«
147 Stufen waren geschafft, 30 fehlten noch. Dem Glockenwart merkte man die Anstrengung trotz seines elenden Zustandes kaum an, er war das Treppensteigen gewohnt, auch Mütze war trainiert. Während Karl-Dieter die Frühstückseier briet, joggte er jeden Morgen am Ufer der Gera aus der Stadt hinaus und durch den Steigerwald wieder zurück. Einzig Braunkärsch, der gemütliche Typ aus den Thüringer Wäldern, kam ziemlich ins Keuchen. Sie waren ein Stockwerk unterhalb der Gloriosa angelangt, wo die Turmuhr hing.
»Das ist noch das Originaluhrwerk aus dem Jahre 1853, feinste Mechanik«, sagte der Glockenwart und deutete auf Drahtseile, die mehrere Meter lang waren, und ein langsam schwingendes Pendel. »Die Uhr stammt aus Weimar, aus der Werkstatt des Großherzoglichen Hofuhrmeisters Jacob Auch. Sein Präzisionsinstrument funktionierte zuverlässig bis 1920, musste aber jeden Tag per Hand aufgezogen werden und wurde deshalb von einem elektrischen Laufwerk abgelöst. Heute wird die Turmuhr per Funk aus Braunschweig gesteuert, von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Wir haben das mechanische Uhrwerk wieder restaurieren lassen, sehen Sie, ist das nicht wundervoll?«
Mütze nickte. Das alles tat zwar nichts zur Sache, dennoch konnte er den Glockenwart verstehen. Viele geschockte Menschen hielten krampfhaft an etwas Gewohntem fest, als könnten sie das aus den Fugen geratene Leben wieder zusammenleimen. Der Leim des Glockenwarts war offensichtlich die Historie des Glockenturms und alles, was damit zusammenhing. Bei allem Verständnis für die Psychologie des Mannes drängte Mütze weiter. Er war schließlich kein Historiker, er musste einen Mörder fangen, und zwar möglichst bald. Bei solch einem spektakulären Fall war der öffentliche Druck enorm.
Eine Minute später standen sie vor der Gloriosa. Erneute staunte Mütze über die riesige Glocke und deren Aufhängung. Links und rechts waren zwei große Schwungräder zu sehen, mit deren Hilfe die Glocke in Gang gesetzt wurde. Durch die Fensteröffnungen sah man auf das Dächermeer von Erfurt hinab und weiter zu den blauen Höhen des Thüringer Waldes, auf dessen höchsten Gipfeln noch der Schnee glitzerte. Den Tatortreiniger hatte man offensichtlich auf die Schnelle nicht von der Ostereiersuche loseisen können, überall klebte noch das angetrocknete Blut. Schwer atmend sank der Glockenwart in die Hocke, während sich Mütze niederkniete, um das Innere der Glocke zu inspizieren.
»Warten Sie, ich mach Licht«, sagte der Glockenwart und drückte einen versteckten Knopf. Aus einem nach oben gerichteten Scheinwerfer flutete es hell in die Glocke hinein.
»Danke!«, sagte Mütze.
Die beiden Kommissare betrachteten die Aufhängung des Klöppels genauer. Um einen Strick darum legen zu können, musste man entweder am Klöppel hinaufklettern, was unwahrscheinlich erschien, oder einen Stuhl benutzen. Ein vergleichbarer Gegenstand kam natürlich auch infrage.
»Nur ein Riese käme aus dem Stand an die Aufhängung heran«, sagte Braunkärsch und blickte sich um. »Was ist mit dem Ding da vorne?«
Unter einem Balken stand eine verstaubte Holzkiste mit dem Aufdruck Leihverpackung DGS.
»Manchmal will ein Kind aus der Besuchergruppe den Klöppel anfassen«, sagte der Glockenwart, »dann ziehen wir die Kiste heran.«
Mütze pfiff durch die Zähne. Er schob die Kiste mit dem Fuß unter die Gloriosa und stellte sich darauf. Aus dem Inneren der Glocke dröhnte seine Stimme auf unheimliche Weise.
»Der Täter schlägt Sternberg nieder, bindet dessen Füße mit einem Strick zusammen, steigt auf die Kiste, fädelt den Strick durch die Öse, steigt vom Hocker wieder herunter und zieht sein bewusstloses Opfer langsam hinauf, bis sich dessen Kopf genau auf der Höhe der Klöppelverdickung befindet.«
»Dem Ballen«, korrigierte der Glockenwart.
»Dem was?«
»Dem Klöppelballen. So nennt man das, was Sie Verdickung nennen.«
»Okay. Dann steigt der Täter erneut auf den Hocker und bindet den Strick oben zusammen«, ergänzte Braunkärsch.
»Und muss nur noch darauf warten, dass die Gloriosa zu schwingen beginnt, exakt um 10.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Beginn des Ostergottesdienstes.«
»So wie es in der Zeitung wie üblich angekündigt worden ist.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich erneut einmische«, sagte der Glockenwart, »aber die Gloriosa hat bereits vorher zu schwingen begonnen. Exakt um 10.42 Uhr und 30 Sekunden habe ich unten auf den Knopf gedrückt.«
Mütze sprang von der Kiste herab und sah den Glockenwart mit großen Augen an.
»Es dauert«, sagte Udo Binge. »Was meinen Sie, welchen Anlauf solch eine Glocke benötigt, bis sie auf den Klöppel trifft? Bei kleineren Glocken geht das Läuten natürlich viel schneller, bei der Gloriosa aber dauert es exakt zweieinhalb Minuten, bis ihr erster Ton erschallt.«
»Das