Der böse Trieb. Alfred Bodenheimer

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Der böse Trieb - Alfred Bodenheimer


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wurde der Salon von einem riesigen Konzertflügel. Mitten im C von BECHSTEIN, als hätte jemand darauf gezielt, klaffte ein hässliches kleines, von Splittern umgebenes Loch, um das eine ziemlich ungeschickte Polizistenhand einen Kreidekreis gemalt hatte.

      »Das war der Schuss, der danebengegangen ist«, sagte Sonja Ehrenreich tonlos hinter ihm. »Der Schuss, der ihn verfehlt hat. Der erste.«

      »Der erste«, wiederholte Klein heiser und räusperte sich. Es hätte theoretisch auch der zweite sein können, dachte er. Auch wenn es eher sinnlos schien, noch in ein Klavier zu schießen, wenn der Mensch, den man treffen wollte, schon darniederlag. Das kleine Loch im Flügel war jedenfalls das letzte noch im Raum verbliebene Zeugnis des Verbrechens, das hier geschehen war. Niemand hätte vermutet, dass in diesem Zimmer noch zwei Tage zuvor die Leiche Viktor Ehrenreichs in ihrem Blut gelegen hatte. Das Kirschbaumparkett wies keine Spuren mehr auf. Versiegelt, dachte Klein unversehens. Zudem hatte die Polizei offenbar sehr schnell gearbeitet, um den Tatort wieder in Sonja Ehrenreichs Heim zurückzuverwandeln.

      Sonja bat ihn, sich an den Esstisch zu setzen, auf dem eine Karaffe mit zwei Gläsern und eine kleine Schale mit einer Nussmischung standen. Sie schenkte bedächtig zwei Gläser Wasser ein.

      Klein war es gewohnt, mit Menschen zusammenzukommen, die soeben ihre nächsten Angehörigen verloren hatten. Manche waren gefasst, andere aufgelöst. Fast immer gelang es ihm, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, den Ring, den der Schmerz um ihre Brust legte, etwas zu lösen. Aber mit dieser Frau, deren überpudertes Gesicht ihn beinahe maskenhaft anschaute, die gestern Abend von einer weiten Reise zurückgekommen war und plötzlich vor einem polizeilich versiegelten Haus stand, ihn nun aber bereits wieder im selben Haus mit den Insignien bürgerlicher Wohlanständigkeit und Ordnung empfing, wie sollte er da ins Gespräch einsteigen? Wie sie so vor ihm saß, ein beiges Tuch um den Kopf, waren ihre Gesichtszüge etwas verquollen und aufgedunsen. War es bloß die Trauer? Waren es Medikamente? Klein wusste schon länger, dass sie an psychischen Problemen litt. Sie trug blütenweiße Handschuhe, von denen sie sich offensichtlich nicht trennen konnte. Viktor hatte ihm von dieser Handschuhmanie seiner Frau erzählt.

      Als Klein die Ehrenreichs vor sieben Jahren kennenlernte, trug sie die Handschuhe noch nicht. Damals waren ihm Sonjas große blaue Augen und die feinen Gesichtszüge aufgefallen, die ihr, in Kombination mit dem üppigen schwarzen Echthaarscheitel, ein romantisches, fast zauberhaftes Aussehen verliehen. Sie schien zu Viktor, dem drahtigen Mann mit dem schütteren braunen Haar neben ihr, gar nicht recht zu passen.

      Er wartete, ob Sonja etwas sagen würde, doch sie schaute ihn ihrerseits erwartungsvoll an. Behutsam und zugleich um Sachlichkeit bemüht fragte er: »Und der zweite Schuss? Hat der ihn sofort getötet? Oder musste er noch lange leiden?«

      »Die Polizei sagt, der zweite Schuss wurde aus nächster Nähe abgegeben. Viktor sei danach sofort tot gewesen.«

      »Hat denn keiner der Nachbarn reagiert? Ist rübergekommen, um zu schauen, was los ist?«

      »Wie es scheint, war kaum jemand in der näheren Nachbarschaft zu Hause. Es sind Schulferien, und hier wohnen fast nur Familien mit Kindern. Leute im Dorf haben zwar bestätigt, dass sie Schüsse gehört haben, aber sie konnten sie nicht lokalisieren. Dachten wohl auch, es seien Knallpatronen.«

      »Und Sie waren verreist«, meinte Klein lakonisch.

      »In Vietnam«, antwortete sie. »Zweieinhalb Wochen.«

      »Vietnam?«

      Sie nickte nur, und er fragte nicht, was sie dort gemacht hatte. Etwa Ferien? Allein in einem Land, in dem es kaum koscheres Essen gab? Oder war sie etwa nicht allein verreist? War es ihre Revanche dafür, dass Viktor seit einigen Jahren jährlich um die Weihnachtszeit für drei Wochen in den Kongo verschwand? Aber das war ein anderes Thema.

      »Und vorgestern sind Sie zurückgekommen.«

      »Ja«, meinte sie. »Etwas früher als geplant. Aber dennoch zu spät.«

      Er schaute vor sich hin, griff schließlich mechanisch in die Nussschale und stopfte sich ein paar Nüsse in den Mund.

      »Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?«, fragte er schließlich.

      Sie blickte in eine andere Richtung.

      »Ich habe ihn vor einer Woche angerufen. Die Verbindungen sind dort nicht überall besonders gut.«

      Sonja zog ein Kosmetiktuch aus einer Packung, die auf dem Tisch stand, und wischte sich eine Träne weg.

      »Gefunden hat ihn seine Praxishilfe«, fuhr sie fort. »Das war am Montagmorgen. Sie hat mich versucht zu erreichen, gleich nachdem sie die Polizei gerufen hatte. Sie hat mir auch eine Nachricht hinterlassen. Nur, dass ich sie bitte umgehend zurückrufen sollte. Die Polizei hat dann auch versucht mich anzurufen, mehrmals. Aber mein Telefon war aus. Und gestern Abend stand ich vor dem versiegelten Haus.«

      Für Montagabend hatte Viktor Ehrenreich sich zu seinem jährlichen »Seelengespräch«, wie er es nannte, bei Klein angekündigt. Doch diesmal war er nicht gekommen. Klein hatte ihn nicht erreicht. Am Tag darauf hatte er dann auf die Festnetznummer des Ehepaars angerufen, und dort hatte ihm Sonja geantwortet. Er hatte es zuerst überhaupt nicht glauben wollen, als sie sagte, ihr Mann sei tot, er sei erschossen worden, wahrscheinlich am Sonntagabend. Spontan hatte Klein daraufhin gefragt, ob sie wolle, dass er in den nächsten Tagen vorbeikomme.

      Sie hatte dankbar bejaht. Und so war er dann tags darauf gegen Abend ins Auto gestiegen und eine gute Stunde nach Inzlingen gefahren, gleich jenseits der Schweizer Grenze hinter Riehen bei Basel.

      »Hier auf dem Boden hat er gelegen«, sagte Sonja und zeigte auf eine Stelle auf dem Parkett nahe der Treppe, die ins Dachgeschoss führte, wo sich eine Galerie und die Schlafräume befanden. »Eine Kugel im Herz. Alles voller Blut natürlich.«

      »Unbegreiflich«, sagte Klein.

      »Und die Ermittler tappen vollkommen im Dunkeln. Es gibt zwar Fingerabdrücke von fremden Personen, aber die Polizisten meinen, es sei nicht logisch, dass jemand eine Hinrichtung plant und zugleich so tollpatschig ist, am ganzen Tatort Spuren zu hinterlassen.«

      »Es war eine gezielte Hinrichtung?«

      »Jedenfalls gibt es keinen Hinweis darauf, dass es ein Raubüberfall oder ein ertappter Einbrecher gewesen sein könnte.«

      »Ein Profi war es jedenfalls kaum. Ein Schuss daneben.«

      »Vielleicht ein Warnschuss. Oder Viktor konnte sich vielleicht zuerst noch wegducken. Er war ja körperlich sehr agil. Ein leidenschaftlicher Radfahrer, wie Sie wissen.«

      Zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss musste irgendetwas geschehen sein. Das Klavier befand sich im Zimmer auf der genüberliegenden Seite der Treppe, wo Viktor nach Sonjas Angabe gelegen hatte. War er nach dem ersten Schuss in Richtung Treppe gelaufen, auf den Mörder zu, und wurde dabei aus nächster Nähe erschossen? Das klang nicht gerade plausibel. Oder hatte er versucht, mit dem Mörder zu verhandeln?

      »Die Frage ist«, meinte Klein, »wer sollte Viktor hinrichten wollen? Ich denke zwar, an Feinden hat es ihm nicht gemangelt. Das hat er jedenfalls in den Gesprächen mit mir immer wieder betont. Aber das waren doch vermutlich keine, die ihn tatsächlich umgebracht hätten.«

      »Natürlich hat er sich mit vielen Leuten verkracht. Mit fast der ganzen jüdischen Gemeinde von Lörrach und noch einigen mehr. Aber da blieb es bei Beschimpfungen oder abgebrochenem Kontakt. Nicht mal den Kletzki, diese Ratte, würde ich eines Mordes für fähig halten.«

      Klein zuckte zusammen. Er hatte gewusst, dass Viktor Ehrenreich sich mit Rabbiner Bunem Kletzki, einem Lubawitscher Chassid, der die Gemeinde von Lörrach angeblich auf den Kurs seiner Bewegung bringen wollte, nicht verstanden hatte. Aber derart despektierlich über einen Rabbiner zu sprechen, das hatte er von einer so religiösen und kultivierten Frau wie Sonja nicht erwartet.

      »Und wenn es ein Hassverbrechen war? Antisemitismus?«

      »Das habe ich die Polizisten natürlich auch gefragt. Aber sie meinen, wer heute ein Hassverbrechen begehe, der wolle,


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