Die Pandemie. Rainer Marten

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Die Pandemie - Rainer Marten


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Ruin Bedrohten.

      Karrierehoffnungen werden von Hoffnungslosigkeit, Karrieren von ihrem vorzeitigen Ende bedroht

      Wer sein öffentliches Leben mit hohem Einsatz spielt und seinen Beruf, den in Aussicht genommenen und den bereits ausgeübten, als Berufung versteht, der wird durch das jähe Nein zu einem Anfang und zu einer Fortsetzung auf unbestimmte Zeit in seinem Lebensvertrauen hart geprüft. Lebensvertrauen ist für das zu lebende Leben ein hohes Gut, ein unverzichtbares. Lebensvertrauen gehört einem Lebenden, so er es hat, weit intimer zu, als es »positives Denken«, Optimismus und Hoffnungen vermögen. Die Gefahr besteht, dass es sich im Danach, bei Aufhebung des Berufsverbots, als ein auf Dauer geschädigtes herausstellt. Vermutlich wird das jedoch, wenn überhaupt, nur selten der Fall sein. Die Lebenskräfte eines Menschen sind zu stark und zu reich differenziert, zumal die eines erfüllten Lebens, um nicht wieder mit Zuversicht, ja mit Lust das tägliche Wagnis des Lebens einzugehen.

      Wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit bedroht?

      Das erstgenannte Grundrecht im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist das Recht auf freie Enthaltung der Persönlichkeit, das zweitgenannte das Recht auf Leben. Damit sind zwei Pflichten des Staates genannt, den beiden Grundrechten praktische Geltung zu verschaffen. Das Recht auf freie Entfaltung hat dabei seine selbstverständliche Einschränkung: Es darf nicht die Rechte Anderer verletzen. Der Staat garantiert einen auf das Miteinander abgestimmten Freiheitsgebrauch des Einzelnen, keine Willkür. In Zeiten der Pandemie ist der Staat ganz besonders in die Pflicht genommen, dem Recht auf Leben Geltung zu verschaffen, was jetzt mit der Sorge verknüpft ist, Leben zu bewahren und vor einer Infektion zu schützen, die zum Tode führen kann. Dadurch wird das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht bedroht, sondern auf Zeit eingeschränkt, als Grundrecht aber nicht aufgehoben. Im Gegenteil, es wird vor seinem Missbrauch bewahrt. Das Recht der von einer Corona-Infektion Bedrohten auf größtmöglichen Schutz des Lebens bedroht kein Recht auf uneingeschränkte freie Entfaltung der Persönlichkeit, weil dies in Corona-Zeiten kein Recht ist, weil unmöglich das überlegene Recht.

      Politische Extremisten mit Neigung zu Verschwörungstheorien verdrehen das pflichtgemäße Handeln des demokratischen, auf die Grundrechte achtenden Staates in ein diktatorisches Handeln. Sie gehen darin so weit, dass sie die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus bezweifeln und für einen Vorwand politischer Gruppierungen ansehen, die das Ziel verfolgen, den Menschen so weit wie nur möglich die Freiheiten zu nehmen, um totalitär über sie verfügen zu können. Als Beispiel diene eine rechtskonservative Fronde von Kardinälen, die gegen den amtierenden Papst agiert. Im Verein mit Gleichgesinnten erlässt sie im Mai 2020 einen Aufruf an alle Katholiken und Menschen guten Willens, um sie vor »Kräften« zu warnen, die in der Bevölkerung Panik erzeugen wollten mit dem Ziel, »dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung und der damit verbundenen Kontrolle über Personen und der Verfolgung all ihrer Bewegungen« zu schaffen. Denken sich Linke immer wieder einmal eine Weltregierung zurecht, die ein Ausbund humaner Vernünftigkeit ist, dann kontern diese Verschwörungstheoretiker das utopische Bild politischer Weltharmonie mit dem Schrecken einer »Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht«.3 Die thematische Frage muss also umgekehrt gestellt werden: Bedrohen ideologische Extremisten die Schutzmaßnahmen der Regierung, die dem Ziel dienen, zum Wohle aller die Pandemie einzudämmen?

DIE GESELLSCHAFT WIRD AUF DIE PROBE GESTELLT

      Das politische System

      Der Ausbruch der Corona-Seuche im Jahr 2020 hat vielfach zu der Erfahrung geführt, dass zur Begegnung der überraschenden und unbekannten Bedrohung aller nicht beratende Vernunft, sondern das Lebensgefühl politisch das Heft in die Hand genommen und die Führung übernommen hat. Es war das Lebensgefühl Einzelner, wie in Großbritannien, den USA und in Brasilien oder das Lebensgefühl einer Nation, wie in Schweden. In Deutschland hat sich die mit Wissenschaft vertraute politische Führung an die Wissenschaft gewandt, an die führenden Virologen und Epidemiologen. Die Aufklärung mit ihrer Übertreibung des Vernunftvermögens, die in Kants These von der moralisch gesetzgebenden Vernunft gipfelt, hat sie in Verruf gebracht, für die Praxis tauglich zu sein. Die reine Vernunft, die es im Haushalt menschlicher Lebenskräfte unmöglich gibt, ist erdacht für Bewohner eines Reiches reiner Geister, nicht aber für lebendige Gesellschaften. Das wusste Aristoteles noch besser, dass für praktische Belange die Vernunft tauglich ist, die berät, nicht befiehlt, die Vernunft, die mit Klugheit und Besonnenheit gepaart ist. Wer sie einbringt, wird auch von Empfindungen geleitet sein, die für Kant der Vernunft nicht nur fremd, sondern ihr Gegensatz sind. Hat jemand bei einer Handlung etwas empfunden, dann kann es sich laut Kant unmöglich um eine vernünftige Handlung gehandelt haben, weil sie nicht rein vernünftig war. Das ist kein philosophischer Exkurs, sondern gehört unmittelbar zur Sache: Der Politiker, der sich in seinem Handeln durch Vernunft beraten lässt, ist kein kalter, für menschliches Ergehen unempfindlicher Mensch. Er ist nur einer, der sich von Emotionen nicht überwältigen lässt, seien es philanthropisch oder national gestimmte. Nur empfindsame Menschen sind zu einem politischen Handeln fähig, das vernunftberaten das für Menschen Zuträgliche im Sinn hat.

      In Corona-Zeiten verbindet sich mit dem politischen System unmittelbar das vom Staat geleitete Gesundheitssystem. Mit ihm wird die Für- und Vorsorglichkeit des Staates, zu der er verpflichtet ist, auf die Probe gestellt. Nun gibt es keine präventiven Maßnahmen für das Unvorhersehbare. Doch das gilt allein für das völlig Unvorhersehbare, und das war bei der Corona-Seuche nicht der Fall. Verwandte Viren von hoher Bedrohungspotenz waren bereits am Werk gewesen. Die rasche Eindämmung und Beendigung der Epidemien ließ das politische und ökonomische Interesse an einer weiterführenden Erforschung dieser Viren ebenso rasch erlahmen, ja eben beendigen. Hier hat das politische System die Probe nicht bestanden, im pharmazeutischen und auch im klinischen Bereich die nötige Vorsorge zu treffen. Nicht selten waren Haushaltseinsparungen der Grund dafür, die zugunsten einer Finanzierung von für die Gewinnung der Wählergunst Effektiverem vorgenommen wurden. Das Nichtbestehen ist freilich in den verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich ausgefallen.

      Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft

      Mitleid (die wörtliche Bedeutung von Sympathie) ist ein einseitiges Geschäft. Es lässt die Bemitleideten vielfach kalt, ja nicht selten hassen sie das Mitleid, empfinden es als eine Herabwürdigung.4 Mitmenschlichkeit braucht Wärme, erzeugt Wärme, Wärme, die sich einander mitteilt. Empathie ist hier das Wort für das Empfinden, das wir füreinander haben, für eine Wechselseitigkeit, die konstitutiv für das je eigene Selbstgefühl ist. Aristoteles versteht Empathie im wörtlichen Sinne von in Passion, in Leidenschaft sein: der Furchtsame, der sich fürchtet, der Liebhaber, der liebt.5 Längst ist es das Wort für Einfühlung in den je Anderen und das sich von ihm her selbst neu Verstehen. Philosophen sprechen von der doppelten Alterität: Der Andere ist ein Anderer und er ist anders. Anderheit und Andersheit gehören zusammen, wenn es um Identitätsbildung geht, die sich auf praktizierte Alterität stützt. Empathie ist so nicht eine gelegentliche Möglichkeit, für Andere aufgeschlossen und nett zu ihnen zu sein. Empathie – das ist das Kennzeichen des empfindenden Menschen, der für das menschliche Ensemble geeignet und nötig ist. Empfindung meint dabei freilich das, was Proust eine echte (authentische) Empfindung nennt, die den Künstler braucht, um den rechten Ausdruck für sie zu finden, in diesem Falle den Lebenskünstler, der sich auf das Teilen des Lebens versteht. Die gängige moderne Deutung von Empathie als »Einfühlung« geht von einem solipsistisch gesteuerten Vorgang aus: mit einfühlendem Verstehen in einen fremden Anderen einzudringen, um gegebenenfalls auf einen als Mörder gedingten Kriminellen zu stoßen, für dessen Fühlen und Vollen kein einverständiges Verständnis aufzubringen ist. Empathie jedoch kennt und braucht allein einverständiges Verstehen im Sinne eines miteinander Warmwerdens.

      Werden in der Corona-Krise Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft auf die Probe gestellt, dann ist es Lebenskunst als die Kunst, Leben zu teilen, die ihre Existenz und ihr Können unter Beweis zu stellen hat.


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