Die Zeit vor dem Tod: Teil 1. Jesper Bugge Kold

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Die Zeit vor dem Tod: Teil 1 - Jesper Bugge Kold


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      Andere Soldaten werfen sich auf Marinus. Reitgerten zischen durch die Luft, die plötzlich von zügelloser Brutalität erfüllt ist. In blinder Wut schlagen und treten sie auf den dänischen Polizisten ein. Ein Offizier hält sie schließlich zurück. Nicht, weil sie den Gefangenen nicht zusammenschlagen dürfen, sondern weil die anderen Gefangenen es nicht mitbekommen sollen.

      Marinus' Kleidung ist blutdurchtränkt und ein Arm hängt in einem unnatürlichen Winkel von der Schulter herunter, als sie ihn von den anderen Gefangenen wegführen.

      Vom Gleis, an dem es nicht mal einen Bahnsteig gibt, gehen die Gefangenen durch das Lager. Die Gefangenen, die sich schon im Lager befinden, sind mit Worten nicht zu beschreiben. Sie sind wie Protagonisten eines unvorstellbaren Albtraums und das Lager ist ein Kabinett des Grauens. Bisher hat Axel nicht für möglich gehalten, dass es Orte wie diesen auf der Welt gibt. Die Gestalten schleppen sich mit langsamen Schritten vorwärts und sehen aus wie Tote, die man schon vor Monaten unter die Erde gebracht und dann wieder ausgegraben hat. Sie sind abgemagert, ausgehungert, bewegen sich wie Invaliden. Ihre Haare erinnern an das Gefieder zerrupfter Hühner. Als Polizist hat Axel Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens gesehen, Menschen, für die der Tod zum Alltag gehört und für die das Leben alles andere als ein Zuckerschlecken ist, speziell in den baufälligen Slums in der Adelgade und der Borgergade. Aber nichts ist mit dem hier zu vergleichen. Die Gerüchte, die in Dänemark kursieren, beschreiben Neuengamme nicht annähernd. In der Heimat haben sie keine Ahnung, wie schrecklich es ist.

      Der Gestank ist unerträglich. Er liegt über dem Lager wie Morgennebel über einem Feld, ist überall, niemand kann ihm entkommen. Er bohrt sich in Nase, Hals und Brustkasten. Axel sieht, wie sich einige seiner Kollegen übergeben.

      Die Dänen werden in den niedrigen Keller eines Steinhauses gebracht. Unter der gewölbten Decke steht Axel in einer kleinen Gruppe, die größer und größer wird. Immer mehr Gefangene werden in den Keller gezwängt. Schweiß läuft ihm übers Gesicht und er will ihn abwischen, kann aber den Arm nicht heben, weil der Mann neben ihm ohnmächtig geworden, aber nicht umgefallen ist. Axels Atem ist heiß und es kommt ihm vor, als habe die Luft, die er einatmet, allen anderen Lungen in diesem Keller bereits einen Besuch abgestattet. Jemand schreit, sie sollen vergast werden und Panik breitet sich aus. Alle schieben und drücken, aber es ist kein Platz, und so vergeuden sie sinnlos ihre Kräfte.

      In kleinen Gruppen werden sie aus dem Keller herausgeführt. Die Luft hier unten macht Axel krank. Ihm wird übel, Kopfschmerzen und ein infernalischer Durst stellen sich ein. Stundenlang harren er und Erik aus. Sie sind unter den Letzten, die nach oben kommen.

      Sie müssen alles abgeben, was sie bei sich haben. Gestenreich versucht Axel, dem ihm am nächsten stehenden Soldaten klar zu machen, dass er seinen Ehering nicht mehr abnehmen kann, dass sein Finger zu dick geworden ist.

      „ Sag es ihm, Erik. Sag ihm, dass ich bald Vater werde. Dass ich nach Hause muss.“

      Axel weiß, dass es nichts nützt, aber er muss es wenigstens versuchen. Das ist er sich schuldig, das ist er Kamma und ihrem ungeborenen Kind schuldig.

      Erik blickt nur ängstlich zu Boden.

      Der Soldat lächelt bloß, nicht boshaft, aber doch hart. Mit einer kurzen Bewegung verdeutlicht er Axel, dass sie den Finger abschneiden werden, direkt am Handknochen. Plötzlich gleitet der Ring vom Finger und verabschiedet sich mit einem leise klirrenden Gruß, als er ihn in eine bereitstehende Schale legt.

      Nur ihre Schuhe dürfen sie behalten, ihre abgetragenen, schmutzigen Schuhe, als würden sie ein besonderen Wert für sie darstellen. Jeder Gefangene bekommt eine kleine Plakette aus Blech. Sie haben keinen Namen mehr, sind nur noch eine Nummer. Sie duschen und werden danach entlaust. Wie dreckige Hunde. Anschließend wird ihnen die Kleidung ausgehändigt. Sie ist viel zu klein, ein Hemd, das allenfalls einem Kind passt, eine Hose, die ihm nur knapp über die Knie reicht. Die Sachen riechen streng und kratzen auf der Haut. Sie sehen sich an. Sie gleichen einer Ansammlung von verwahrlosten Kindern und Zirkusclowns. Jetzt sehen sie aus wie alle anderen Gefangenen, abgesehen davon, dass sie noch Muskeln und etwas Farbe im Gesicht haben. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.

      Die Baracke, in der sie untergebracht werden, ist marode, das Dach undicht. Aber sie ist ihr neues Zuhause. Mehrere hundert Männer werden in einem einzigen, großen Raum zusammengepfercht. Axel spürt eine stille Freude, als auch Erik seiner Baracke zugeteilt wird. Das Gefühl ist vollkommen unnatürlich, denn die Baracke ist kein Ort, an dem man Freude verspürt. Freude verdient sie nicht.

      Die Ungewissheit hat Axels Körper in eine Art Ruhezustand versetzt. Es ist, als habe er sich selbst Fesseln angelegt und alle Bedürfnisse unterdrückt, um nicht zur Last zu werden, aber jetzt braucht er dringendst eine Toilette. Axel schiebt sich zwischen den anderen hindurch. Die Klos liegen hinter dem Waschraum. Sie bestehen nur aus Löchern in ein paar Holzbohlen. Er setzt die Arme ein, um sich durch das Gedränge und den Gestank bis zum Pissoir an der gegenüberliegenden Wand vorzuarbeiten. Er atmet in kurzen, flachen Zügen durch den Mund, während er sich erleichtert. Zurück in dem großen Raum hofft er, dass sein Körper die basalen Bedürfnisse wieder vergisst.

      Ihr erstes Essen ist eine Kohlrabisuppe, eine saure, durchsichtige Brühe, die nicht viel anders riecht als die Toiletten. Erik hält ihm eine verbeulte Schale hin. Axel starrt auf die trübe Flüssigkeit und bemerkt, das etwas zurückstarrt. Sein Spiegelbild auf der fettigen Oberfläche sieht ihn mit tristem Blick an. Er hört Kammas Stimme mit dem feinen, singenden Bornholmer Akzent. „Iss, Axel, du magst Suppe doch so gerne.“ Er liebt Suppe, aber das hier ist keine Suppe. Er kann sich nicht überwinden zu essen, was in der Schale schwimmt, was es auch immer sein mag, und reicht sie weiter.

      Im selben Moment übermannt ihn die Erschöpfung. Die Beine geben nach und zittern unkontrollierbar. Er stützt sich auf seinen Nachbarn, einen breitschultrigen Polizisten, der verzweifelt in seine Suppenschale glotzt. Als Axel ihn berührt, lässt er die Schale fallen, ist aber weder verärgert noch wütend auf ihn. Das Malheur scheint fast wie eine Befreiung zu sein; jetzt muss er sich nicht entscheiden, ob er den widerlichen Fraß zu sich nimmt.

      Robert, ein Kollege, den Axel sehr schätzt, hilft ihm in die nächste Koje. Er hat Kinder, Axel kann es spüren, so behutsam, wie er mit ihm umgeht.

      Kurz darauf sind alle Kojen belegt. Sie sind so eng, dass es nur eine Liegeposition gibt: auf der Seite. Er teilt sich eine Koje mit Robert, sie liegen dicht aneinander. Unter dem zusammengepressten Stroh, das als Matratze dienen soll, spürt er die harten Bretter. Er kann nicht einschlafen. Der Körper ist ausgelaugt, kann sich aber nicht entspannen. Niemals wird er hier schlafen können.

      Sehr früh werden sie aus den Kojen gescheucht. Noch ist die Sonne nur eine schwache Nuance in der Dunkelheit, die überlegt, ob auch sie aufstehen soll. Axel hat nur gedöst und nicht das Gefühl, auch nur kurz geschlafen zu haben. Seine Beine sind steif, als er auf dem kalten Fußboden steht. Er kramt seine Schuhe aus der Koje und plötzlich ist ihr Anblick überwältigend. Er hat geschimpft und geflucht, dass sie alles sind, was sie behalten durften, aber jetzt weiß er ihren Wert zu schätzen. Sie schützen ihn gegen die Kälte, vor Verletzungen und Schnittwunden; vielleicht retten sie sogar sein Leben.

      Vor den Waschbecken herrscht dichtes Gedränge. Alle hoffen, den Gestank der Baracke samt der Erlebnisse der letzten Tage abwaschen zu können. Sie geben sich alle Mühe, schrubben beinahe verzweifelt Hände, Gesicht und Achseln, aber der Gestank bleibt der gleiche, und was passiert ist, wird keiner von ihnen jemals vergessen.

      Wieder steht Suppe auf der Speisekarte, doch es ist eine Schande, das Gericht Suppe zu nennen. An diesem Morgen isst niemand etwas. Axel und Robert kippen die Suppe vor der Baracke weg, um dem Gestank drinnen zu entfliehen.

      Von seinem Standort aus kann Axel den Bottich sehen, aus dem die Suppe kommt, und er kann sehen, wie die anderen Gefangenen des Lagers sich gierig darauf stürzen. Ihr Verhalten hat etwas Rücksichtsloses und Beunruhigendes an sich. Sie sind wie ein Rudel Wölfe, das nach Monaten des Hungers gerade Beute gerissen hat. Nach und nach wird ihm klar, dass er vielleicht so enden wird wie sie.

      Dreiecke in verschiedenen Farben sind auf die Kleidung der Gefangenen genäht oder aufgemalt: rote, grüne, schwarze. Er


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