Zersplittert. Teri Terry

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Zersplittert - Teri Terry


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Problem, wirklich. Es macht mir nichts aus. Wann fängst du an?«

      »Morgen«, sagt sie mit schuldbewusstem Blick.

      »Du hast doch ohnehin schon zugesagt, oder?«, frage ich.

      »Erwischt!«, meint Jazz. »Aber was ist mit mir? Wann hast du überhaupt Zeit für mich?« Die restliche Fahrt über tun sie so, als würden sie sich deshalb streiten.

      Der Vormittag rauscht einfach so an mir vorbei. Ich scanne meinen Schülerausweis vor jeder Stunde ein und tue im Unterricht so, als würde ich zuhören. Versuche auszusehen, als wäre ich aufmerksam und lernwillig, damit niemand Grund hat, mich genauer ins Visier zu nehmen. Nach der Stunde scanne ich meine Karte dann wieder. Ich esse allein, und wie üblich werde ich von den anderen Schülern ignoriert, die sich von den Slatern fernhalten. Ben mochten die meisten, aber ich bin nicht besonders beliebt. Vor allem jetzt nicht mehr, seit er verschwunden ist.

      Ben, wo bist du? Sein Lächeln, das warme, sichere Gefühl seiner Hand in meiner, das Leuchten in seinen Augen – die Erinnerung schmerzt, als würde mir jemand ein Messer in den Bauch rammen. Der Schmerz ist so real, dass ich die Arme um mich schlingen muss, um nicht laut loszuschreien.

      Insgeheim weiß ich aber, dass ich das nicht mehr viel länger aushalte. Gefühle lassen sich nicht für immer verschließen.

      Aber nicht hier. Nicht jetzt.

      Dann ist es endlich Zeit für den Biounterricht. Mein Unbehagen wächst auf dem Weg zum Labor. Was, wenn ich durchgedreht bin und er gar nicht Nico ist? Gibt es ihn überhaupt?

      Was, wenn er es ist? Was dann?

      Ich lese meine Karte an der Tür ein, gehe nach hinten und setze mich, bevor ich es wage aufzublicken. Vielleicht hätten mir die Beine versagt, wenn ich ihn, der mir ständig im Kopf herumspukt, nun in natura vor mir sehe.

      Und da ist er: Mr Hatten, unser Biolehrer. Ich starre ihn an, aber das ist nichts Außergewöhnliches, denn das tun alle Mädchen. Er ist nicht nur zu jung und zu gut aussehend für einen Lehrer. Er hat etwas Besonderes an sich. Und das hängt nicht nur mit den schönen Augen, dem welligen, blond gesträhnten Haar, das für einen Lehrer ziemlich lang ist, oder seiner großen, durchtrainierten Gestalt zusammen. Es liegt vielmehr an seinem Auftreten: ruhig, aber immer alarmbereit wie ein Gepard, der auf den Sprung wartet. Alles an ihm verströmt Gefahr.

      Nico. Es ist Nico, keine Frage, kein Zweifel. Seine unvergesslich hellblauen Augen mit den dunklen Rändern schweifen durch den Raum. Unsere Blicke begegnen sich. Wir sehen uns an und seine Augen bekommen einen warmen Ausdruck. Wir erkennen uns wieder, und es ist fast wie ein körperlicher Schock, der alles real macht. Als er den Blick schließlich löst, fühlt es sich an, als würde er mich aus einer Umarmung entlassen.

      Das bilde ich mir nicht ein. Genau in diesem Moment steht er, Nico, auf der anderen Seite des Raums. Bislang habe ich es nur geahnt, doch jetzt, mit meinem neu erwachten Bewusstsein, bin ich mir hundertprozentig sicher.

      Dann fällt mir ein, dass ihn zwar die anderen Schülerinnen anstarren, ich das aber normalerweise nicht tue. Zumindest nicht so auffällig.

      Also versuche ich, es während des Unterrichts nicht zu tun, aber vergeblich. Seine Augen suchen immer wieder meine. Lese ich darin Neugierde, Fragen? Amüsiertes Interesse?

      Vorsicht. Er darf nicht wissen, dass sich etwas verändert hat, ehe ich nicht herausgefunden habe, wer er ist und was er will. Ich zwinge mich, auf das Heft und den Stift vor mir zu schauen, der über die Seite fliegt und wie zufällig blaue Wirbel und halb fertige Skizzen hinterlässt, wo eigentlich Notizen stehen sollten. Als würde meine Hand ein Eigenleben führen.

      Der Stift, die Hand – die linke Hand. Ohne nachzudenken, halte ich ihn in der linken Hand.

      Aber ich bin Rechtshänderin. Oder?

      Ich muss Rechtshänderin sein!

      Mir stockt der Atem und ich bekomme Angst. Ich zittere.

      Alles um mich herum wird schwarz.

      Sie streckt die Hand aus. Die rechte Hand. Tränen laufen ihr übers Gesicht. »Bitte hilf mir …«

      Sie ist so jung, noch ein Kind. Ein solch bettelnder, flehentlicher Ausdruck liegt in ihren Augen, dass ich alles tun würde, um ihr zu helfen, aber ich erreiche sie einfach nicht. Je näher ich komme und umso mehr ich versuche, nach ihrer Hand zu fassen, desto weiter ist sie von dort entfernt, wo sie zu sein scheint. Durch irgendeinen optischen Trick rutscht sie mehr und mehr nach rechts. Und immer ist sie ein Stück zu weit weg, um nach ihr greifen zu können.

      »Bitte hilf mir …«

      »Gib mir deine andere Hand!«, sage ich, doch sie schüttelt den Kopf und reißt die Augen weit auf. Aber ich wiederhole die Bitte, bis sie schließlich die linke Hand hebt, die bislang neben ihrem Körper lag, sodass ich sie nicht sehen konnte.

      Die Finger sind gekrümmt und blutig. Gebrochen. Eine plötzliche Erinnerung schießt mir durch den Kopf – ein Ziegel. Finger, die von einem Ziegel zertrümmert werden. Ich keuche auf.

      So verletzt, wie sie ist, kann ich ihre Hand nicht anfassen.

      Ihre Hände sinken nach unten. Sie schüttelt den Kopf und ihr Körper verblasst. Sie löst sich allmählich auf, bis ich durch sie hindurchsehen kann wie durch feinen Nebel.

      Ich will sie festhalten, aber es ist zu spät.

      Sie ist weg.

      »Mir geht’s schon wieder gut. Ich habe letzte Nacht einfach zu wenig geschlafen, das ist alles. Mir geht’s wirklich gut«, beteuere ich. »Kann ich jetzt in meine letzte Stunde gehen?«

      Die Schulschwester schenkt mir nicht mal ein Lächeln. »Diese Entscheidung musst du schon mir überlassen«, sagt sie.

      Stirnrunzelnd scannt sie mein Levo. Mein Magen verkrampft sich, weil ich Angst habe, dass alles auffliegt. Nach dem, was passiert ist, hätte mein Level fallen müssen. Als das Levo noch richtig funktioniert hat, bin ich manchmal selbst von Albträumen ohnmächtig geworden. Aber wer weiß, was es jetzt anzeigt?

      »Sieht aus, als ob du einfach nur umgekippt bist. Dein Level ist in Ordnung. Es ist sogar ganz gut. Hast du zu Mittag gegessen?«

      Sie braucht einen Grund.

      »Nein. Ich war nicht hungrig«, lüge ich.

      Sie schüttelt den Kopf. »Kyla, du musst essen.« Sie hält mir einen Vortrag über Blutzucker, gibt mir Tee und Kekse, und ehe sie durch die Tür verschwindet, befiehlt sie mir, dass ich bis zum Unterrichtsende in ihrem Büro bleiben soll.

      Als ich allein bin, gerate ich wieder ins Grübeln. Das Mädchen mit der gebrochenen Hand in diesem Albtraum, dieser Vision oder was es auch war … Ich weiß, wer sie ist. Ich erkenne sie als eine jüngere Version von mir selbst. Sie hat meine Augen, meinen Körperbau, alles. Lucy Connor: vor Jahren aus ihrer Schule in Keswick verschwunden. Laut MIA war sie zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Missing In Action, so heißt die illegale Webseite, die ich vor Wochen bei Jazz’ Cousin gesehen habe. Lucy war ein Teil von mir, bevor ich geslated wurde. Aber selbst mit meinen neuen Erinnerungen kann ich mich nicht mehr in Lucy hineinversetzen und weiß nicht, wie ihr Leben ausgesehen hat. Ich kann sie mir noch nicht einmal als »ich« oder »mich« vorstellen. Sie ist anders, unabhängig, losgelöst von mir.

      Wie passt Lucy in das Chaos in meinem Gehirn? Frustriert trete ich gegen den Tisch. Es gibt so viele Dinge, die ich nur halb verstehe. Ich habe das Gefühl, dass ich bestimmte Sachen weiß, aber wenn ich mich auf die Details konzentriere, entgleiten sie mir, lösen sich auf.

      Als mir bewusst wurde, dass ich mit der linken Hand schreibe, kamen all diese Erinnerungen auf einmal wieder in mir hoch. Hat Nico etwas gemerkt? Falls er mitbekommen hat, dass ich mit links schreibe, weiß er, dass sich etwas verändert hat. Ich müsste Rechtshänderin sein und es ist wichtig, so wichtig … Warum ist es so wichtig, dass ich Rechtshänderin bin, warum war ich das vorher und warum jetzt nicht mehr? Es fällt mir einfach nicht ein. Die Erinnerung ist so deformiert wie die Finger, die von einem Ziegel


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