Vanadis. Isolde Kurz
Читать онлайн книгу.Solche Dienste können sich nur Altersgenossen untereinander leisten, denn Erziehung ist eine sehr fragwürdige Sache. Das einzig Bedauerliche ist, daß er die arme kleine Vanadis neckt und ärgert, wo er kann, aber sie ist ihm gewachsen, und wenn er erst älter wird, so hört das von selber auf. Es ist also gewiß nicht pro domo gesprochen – denn wir alle, vielleicht nicht einmal Vanadis ausgenommen, würden sein Fortgehen bedauern –, wenn ich sein Anliegen vor dich bringe, du möchtest ihn aus dem Gymnasium wegnehmen, wo er doch nichts lernt, und ihm den Eintritt in eine gute Zeichenschule, die es hier nicht gibt, ermöglichen.“
„Davon kann für jetzt keine Rede sein“, war die Antwort. „Wenn er das Zeug zum Künstler hat, so werde ich ihn gewiß nicht hindern, aber zuvor soll er mir ein gebildeter Mensch werden. Ich hasse das Banausentum gewisser Künstler, die meinen, ihre Kunst könne darunter leiden, wenn sie unsere klassischen Dichter kennen und ein richtiges Deutsch schreiben. Bevor er mit der letzten Klasse des Gymnasiums fertig ist, soll er mir an keine Kunstschule denken; bis dahin hat sich dann gezeigt, was von seinem Talent zu hoffen steht.“
„Wenn nun aber das Gymnasium doch an ihm verloren ist, wäre es da nicht besser, er käme so früh wie möglich in sein natürliches Fahrwasser? Daneben könnte er noch immer eine Privatschule besuchen. Du siehst ja, er hat Jahr für Jahr die schlechtesten Zeugnisse und ist der Schrecken der Lehrer, die ihm bei der Prüfung durchhelfen, daß er ihnen nur ja nicht ein Jahr länger in der Klasse bleibt. Dagegen werden die Kohlezeichnungen, womit er alle Wände bedeckt, täglich besser und merkwürdiger. Seine Tiergestalten haben etwas so unmittelbar Erschautes, daß man staunen muß, wie ein Kind dergleichen ohne alle Anleitung fertigbringt, denn der Zeichenunterricht in der Schule ist wahrlich eine jämmerliche Sache. Und dann seine Fratzen und Ungeheuer – eine ganze dämonische Welt –, hast du dir sie recht betrachtet? Man begreift nicht, wo er sie herbringt; man denkt, solange man sie ansieht, er müsse ihnen irgendwo leibhaft begegnet sein, so ganz voll sind sie von Leidenschaft und Leben.“
„Ja, und hier steckt gerade der Knoten“, antwortete Baron Solmar. „Sein Dichten und Trachten geht auf das Abstoßende, das Widerwärtige. Wenn ich sagen wollte, er habe keinen Schönheitssinn, so wäre es falsch ausgedrückt, er hat einen tatsächlichen Sinn für das Häßliche. Seine Tierbilder sind talentvoll, zugegeben. Aber hat es ihn je gereizt, ein edles Roß, das Schönste der Schöpfung, nachzubilden? Und schöne Pferde kann er doch täglich sehen! Nein, einen Ackergaul stellt er dir hin mit Hufen wie vier Klötze oder einen jammervollen Klepper, dem alle Rippen durchscheinen. Und was fängt er mit dem Schönen an, wenn er ihm nicht ausweicht? Er macht eine Fratze daraus. Wahrhaftig, vor einem solchen Talent, wenn er wirklich eines hätte, müßte man ja die Kunst bewahren. Wir brauchen keinen neuen Höllenbreughel. Er soll jetzt hübsch bei seinem Latein und seiner Mathematik bleiben. Nach der Matura wollen wir weiter sehen, vielleicht hat er bis dahin gelernt, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.“
Dabei blieb’s. Wenn Baron Solmars reizbares Schönheitsgefühl verletzt wurde, so war das schlimmer als eine persönliche Beleidigung. Er hatte so lange in den Ländern der Sonne gelebt, wo Zweckmäßigkeit und Schönheit zusammenfallen, daß jede unschöne Form, plumpes Betragen, steife oder schwerfällige Bewegungen ihm einen beinahe körperlichen Schmerz verursachten. Nun hatte ihm das Schicksal wie zum Hohne einen Sohn gegeben, der – obwohl von zwei schönen Eltern und aus einer entflammten Stunde stammend – unebenmäßig und häßlich war und noch obendrein – je älter er wurde, um so mehr – mit allem Schönen Krieg führen zu wollen schien. Zwischen diesen beiden Naturen war eine Verständigung nicht vorstellbar, und der Vater hielt sich von vornherein, zwar ohne Härte, aber kühl bis ans Herz, von dem Knaben zurück, zu dessen Seelenleben er keinen Zugang sah noch suchte. So hatte auch das Gespräch über Roderichs Zukunft keinen andern Erfolg, als daß Baron Solmar häuslichen Nachhilfeunterricht in denjenigen Fächern, worin der Knabe besonders schwach sei – das waren so gut wie alle –, anordnete.
Das Opfer, dem dieses saure Amt zufiel, war auch schon gefunden. Es war Herr Wittich, ein stiller, unscheinbarer, aber um so gründlicherer Gelehrter, wie es deren zu jener Zeit viele gab, wahre Aschenbrödel der Wissenschaft, von deren Bedeutung in Gelehrtenkreisen die nächste Umwelt zumeist nichts ahnte. Aus Bescheidenheit und wegen beschränkter äußerer Umstände hatte er es nicht weiter gebracht als zum Titularprofessor am Städtischen Gymnasium, so daß er gerne die Gelegenheit wahrnahm, einer zu kleinen Besoldung bei zu großem Familiensegen durch ein Nebenamt aufzuhelfen. Gewissenhaft, wie er war, legte er sich gleich einen Lehrplan zurecht, durch den, wie er hoffte, der jungfräuliche Boden von Roderichs geistigen Fähigkeiten urbar gemacht werden sollte. Allein, er wußte nicht, was ihn erwartete. Als Roderich erfuhr, daß er nicht nur nicht aus dem verhaßten Joch der Schule erlöst werden, sondern jetzt sogar noch seine Freistunden an Dinge wenden sollte, deren Nützlichkeit ihm unerfindlich war, zerbiß er sich die Fäuste und brüllte seinen Zorn durch den abgelegenen Forst. Zwar wagte er, solange Baron Solmar um den Weg war, nicht gegen den Stachel zu löcken, aber auch er legte sich seinen Plan zurecht, der darin bestand, den Feind – als solchen betrachtete er Herrn Wittich – durch passiven Widerstand hinzuhalten, zu zermürben und endlich aufzureiben. Als er zuerst dem neuen Lehrer entgegentrat, geschah es mit so undurchdringlich verstockter Miene, daß jener sogleich wußte, woran er war. Er suchte ihm zunächst durch Güte und Vernunft beizukommen, indem er ihm den Wert einer guten Schulbildung fürs Leben und die Notwendigkeit, mit Zahlen umzugehen, auseinandersetzte, doch ohne daß sich die düstere Miene des Schülers erhellte. Dann begann die beiderseitige Qual, die sich nun Tag für Tag wiederholen sollte.
Herr Folkwang hatte die Wahrheit gesagt, als er dem Freund versicherte, daß sein Sohn trotz seiner Untugenden niemand im Hause zur Last sei, ausgenommen Vanadis, die aber so an ihn gewöhnt war, daß sie ihn als notwendiges Übel betrachtete. Denn er hatte dazugehört, fast solange sie zurückdenken konnte. Carlo, der florentinische Kammerdiener, hatte ihn als kleinen Knirps ins Haus gebracht mit einem geringen Vorrat italienischer Wörter, deren er sich längst nicht mehr erinnerte. Damals war er ein urdrolliger Kobold. Sein Kopf war viel zu groß für den kleinen Körper und sein Schädel so hart, daß er ihn als Sturmbock gegen alles gebrauchte, was sich ihm hindernd in den Weg stellte. Es war ihm gleich, wenn er sich noch so viele Beulen schlug. Schon damals hatte er es auf die kleine Vana abgesehen, der er gerne einen krabbeligen Maikäfer oder eine schaurig kalte Eidechse in den Nacken schob. Doch wurde seine Gegenwart in dem gerade verwaisten Hause, über dem die Dämpfung der Trauer lag, als eine Erfrischung empfunden, weil er immer Anlaß zum Lachen gab. Als er beim ersten Osterfeste erfuhr, daß die Hasen Eier legen, schöne rote, grüne und blaue, die im Gras zusammengesucht werden mußten, ging er eine Zeitlang täglich im Forst auf die Hasenjagd, um einen Eierlieferanten heimzubringen. Weil er keinen Hasen fing, stahl er im Nachbarhause ein Kaninchen aus dem Stall und wollte es zum Eierlegen nötigen, und er war sehr niedergeschlagen, als er gezwungen wurde, in Gesellschaft der Magd die Beute zurückzutragen und um Verzeihung für den Diebstahl zu bitten. Eine Zeitlang – er trug schon den Ranzen zur Schule, was freilich in jenen Tagen früher begann als jetzt – beschäftigte ihn der Zweifel, ob Frauen Beine haben. Es lag ja nahe, das anzunehmen, weil sie sich fortbewegten, aber die Mode der langen Röcke hinderte ihn, sich Gewißheit zu verschaffen, und fragen mochte er nicht. Zwar hatten ihm die Großmutter und Tante Fanny beim Treppensteigen gelegentlich Anlaß zu der Erkenntnis gegeben, daß es sich in der Tat so verhalte, aber aus Familienbeinen ließen sich nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf die Allgemeinheit ziehen, denn im Hause Folkwang war alles anders als anderwärts. Das sagten wenigstens seine Schulkameraden, die es von ihren Eltern wußten, er selber hatte ja keinen Maßstab. Eines Tages beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Ein rundliches Fräulein aus der Nachbarschaft, das den spaßhaften Namen Hußwadel hatte, war von den Damen zum Kaffee gebeten. Der Name mochte den Knaben reizen, gerade bei ihr die Probe zu machen. Er wußte aus Erfahrung, daß der Gast den Ehrenplatz auf dem Kanapee neben der Großmutter einzunehmen pflegte, während die Tante gegenüber saß. Also verkroch er sich unter dem Kanapee, ehe man sich setzte. Als sich der angenehme Mokkaduft verbreitete, der ihm die Gewißheit gab, daß jetzt die Aufmerksamkeit abgelenkt war, machte er sich nach vorn und hob vorsichtig den seidenen Rocksaum des Gastes auf, darunter einen zweiten, gestreiften und endlich gar noch einen dritten, leichteren. Da erblickte er zu seinem Schrecken in weißen straffgespannten Strümpfen ein Paar mächtig gerundete Waden.
Roderich