Geteilt durch Null. Ted Chiang

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Geteilt durch Null - Ted Chiang


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wahnsinnig zu werden? Hatten sie sich an all das gewöhnt? Würden Kinder, die hier unter dem festen Himmel auf die Welt kamen, vor Angst schreien, wenn sie den Erdboden unter sich sahen?

      Vielleicht waren die Menschen nicht dafür geschaffen, an so einem Ort zu leben. Wenn ihre eigene Natur sie davon abhielt, dem Himmel zu nahe zu kommen, sollten sie wohl besser auf der Erde bleiben.

      Als sie die Spitze des Turmes erreichten, verflog die Desorientierung, oder vielleicht waren sie nun immun geworden. Hier, auf der quadratischen Plattform ganz oben, starrten die Bergarbeiter auf den ehrfurchtgebietendsten Anblick, den je ein Mensch gesehen: Weit unter ihnen lag ein Flickenteppich aus Erde und Wasser, vom Dunst verschleiert – und breitete sich in alle Richtungen aus, so weit das Auge reichte. Gleich über ihnen befand sich das Dach der Welt, der Scheitelpunkt des Himmels – höher ging es nicht mehr hinauf. Hier konnten sie einen so großen Teil der Schöpfung auf einmal sehen wie nirgendwo sonst.

      Die Priester sprachen ein Gebet an Jahwe, in das alle einstimmten; sie dankten ihm dafür, dass ihnen gewährt war, so viel zu sehen, und baten um Vergebung für ihr Verlangen, noch mehr zu sehen.

      Auf der Spitze wurden weiter Backsteine gelegt. Aus den erhitzten Kesseln, in denen die Bitumenklumpen geschmolzen wurden, stieg kräftiger Teergeruch auf. Das war der erdigste Duft, den die Bergarbeiter seit vier Monaten gerochen hatten, und sie sogen begierig die Luft ein, bevor der Wind ihn verwehte. Hier auf der Spitze, wo der Schlamm, der einst aus den Rissen der Erde gesickert war, sich verfestigte, um Steine zusammenzuhalten, wuchs der Erde ein Arm in den Himmel.

      Hier arbeiteten die Maurer – Männer, die mit Bitumen beschmiert waren, mischten den Mörtel und setzten mit absoluter Präzision die schweren Steine. Noch weniger als sonst irgendjemand konnten sie es sich leisten, angesichts des Himmelsgewölbes Schwindel zu empfinden, denn der Turm durfte nicht einen Fingerbreit von seiner senkrechten Ausrichtung abweichen. Sie näherten sich dem Ende ihrer Aufgabe, und endlich, nach vier Monaten des Aufstiegs, waren die Bergarbeiter so weit, mit der ihren zu beginnen.

      Bald darauf trafen die Ägypter ein. Sie waren von schlankem Körperbau, hatten dunkle Haut und nur spärlichen Bartwuchs am Kinn. Die Karren, die sie gezogen hatten, waren mit Dolerithämmern, Bronzewerkzeug und Holzkeilen beladen. Ihr Vorarbeiter hieß Senmut, und er beriet sich mit Beli, dem Vorarbeiter aus Elam, darüber, wie sie das Himmelsgewölbe durchstoßen wollten. Die Ägypter wie auch die Männer aus Elam bauten aus dem, was sie mitgebracht hatten, eine Schmiede, um das Bronzewerkzeug, das durch die Arbeiten stumpf werden würde, neu gießen zu können.

      Das Gewölbe selbst blieb weiter knapp über ihren ausgestreckten Fingerspitzen; wenn jemand hochsprang, um es zu berühren, fühlte es sich glatt und kühl an. Es schien aus feingemahlenem weißen Granit zu bestehen, und seine Oberfläche war vollkommen gleichmäßig. Doch das war das Problem.

      Vor langer Zeit hatte Jahwe die Sintflut ausgelöst und dabei zugleich die Fluten aus den Höhen und den Tiefen entfesselt; die Wasser des Abgrundes waren aus den Quellen der Erde geströmt, und die Wasser des Himmels regneten aus den Schleusen des Himmelsgewölbes hernieder. Nun jedoch betrachteten die Menschen das Gewölbe genau und konnten keine Schleusentore erkennen. Sie nahmen die Oberfläche in alle Richtungen in Augenschein, aber keine Öffnungen, keine Fenster, keine Fugen unterbrachen die Granitfläche.

      Allem Anschein nach traf ihr Turm an einer Stelle zwischen den Speichern auf das Gewölbe, was in der Tat eine glückliche Fügung war. Wäre da ein Schleusentor gewesen, hätten sie riskieren müssen, es aufzubrechen und den Speicher zu leeren. Das hätte für Shinar Niederschlag bedeutet, außerhalb der winterlichen Regenzeit und weit heftiger; entlang des Euphrats würde das für Überschwemmungen sorgen. Wahrscheinlich würde dieser Regen aufhören, wenn der Speicher ausgelaufen wäre, aber es bestand die Möglichkeit, dass Jahwe sie bestrafen und für weiteren Regen sorgen würde, bis der Turm zusammenstürzte und Babylon sich im Schlamm auflöste.

      Obschon es keine sichtbaren Schleusentore gab, bestand immer noch ein gewisses Risiko. Vielleicht waren die Fugen der Tore für sterbliche Augen nicht zu sehen, und sie befanden sich doch unmittelbar unter einem Speicher. Oder vielleicht waren die Speicher so riesig, dass sie sich selbst dann, wenn die nächste Schleuse sehr weit von ihnen entfernt war, immer noch unter dem Wasser befanden.

      Es wurde viel darüber gesprochen, wie man am besten vorgehen sollte.

      »Jahwe wird den Turm sicherlich nicht hinfortschwemmen«, behauptete Qurdusa, einer der Maurer. »Wäre der Turm ein Sakrileg, dann hätte Jahwe ihn schon längst zerstört. Und doch haben wir in all den Jahrhunderten unserer Arbeit niemals die geringsten Anzeichen für Jahwes Missgunst bemerkt. Wenn wir in einen Speicher eindringen, wird Jahwe zuvor das Wasser ableiten.«

      »Wenn Jahwe tatsächlich so wohlwollend auf unser Vorhaben blicken würde, gäbe es bereits eine fertige Treppe, die ins Gewölbe führen würde«, entgegnete Eluti, ein Mann aus Elam. »Jahwe wird uns weder helfen, noch uns aufhalten; falls wir in einen Speicher eindringen, werden wir eine Sturzflut auslösen.«

      Da konnte Hillalum seine Zweifel nicht für sich behalten. »Und was, wenn das Wasser kein Ende nimmt?«, fragte er. »Jahwe mag uns nicht bestrafen, doch er mag es zulassen, dass wir uns selbst richten.«

      »Mann aus Elam«, sagte Qurdusa, »selbst als Neuankömmling auf dem Turm solltest du es besser wissen. Wir strengen uns an, weil wir Jahwe lieben, wie wir es unser ganzes Leben lang getan haben, so wie unsere Väter seit Generationen. Über Männer, die so rechtschaffen sind wie wir, wird nicht so streng geurteilt.«

      »Es ist wahr, dass wir uns mit den lautersten Absichten mühen, aber das heißt nicht, dass wir auch weise wären. Haben die Menschen wirklich den rechten Weg gewählt, als sie beschlossen, ihr Leben fern der Krume, aus der sie geschaffen wurden, zu leben? Jahwe hat nie gesagt, dass unsere Wahl richtig war. Nun sind wir hier, bereit, das Himmelsgewölbe aufzubrechen, obwohl wir wissen, das sich über uns Wasser befindet. Wenn wir irren, wie können wir dann sicher sein, dass Jahwe uns vor unseren eigenen Fehlern beschützt?«

      »Hillalum rät zur Vorsicht, und ich stimme ihm zu«, sagte Beli. »Wir müssen dafür sorgen, dass wir keine zweite Sintflut über die Welt bringen und auch keine gefährlichen Regenfälle über Shinar. Ich habe mich mit dem Ägypter Senmut beraten, und er hat mir Entwürfe gezeigt, die sie genutzt haben, um die Gräber ihrer Könige zu versiegeln. Ich glaube, ihre Methoden bieten uns die nötige Sicherheit, wenn wir mit dem Graben beginnen.«

      Die Priester opferten den Ochsen und die Ziege in einer Zeremonie, bei der viele heilige Worte gesprochen und viel Weihrauch verbrannt wurden, und die Bergarbeiter begannen ihr Werk.

      Lange, bevor die Arbeiter das Gewölbe erreichten, war augenfällig geworden, dass einfaches Graben mit Hämmern und Hacken nicht viel bringen würde: Sie wären kaum mehr als zwei Fingerbreit am Tag vorangekommen, selbst wenn sie waagerecht gegraben hätten, und senkrecht nach oben ging alles noch viel langsamer. Stattdessen entschied man sich dafür, es mit Feuer zu versuchen.

      Mit dem Holz, das sie mitgebracht hatten, wurden unter der ausgewählten Stelle des Gewölbes Feuerstellen errichtet und tagelang ununterbrochen unterhalten. Über den heißen Flammen knackte und platzte der Stein. Nachdem sie das Feuer hatten ausgehen lassen, spritzten die Arbeiter Wasser auf den Stein, um ihn weiter bersten zu lassen. Dann konnten sie den Stein in großen Stücken herausbrechen, die schwer auf den Turm fielen. Auf diese Art kamen sie an jedem Tag, an dem das Feuer brannte, fast eine Elle voran.

      Der Tunnel führte nicht gerade nach oben, sondern in einem für Treppen üblichen Winkel, sodass sie vom Turm aus eine Stufenrampe bauen konnten. Das Feuer machte die Wände und den Boden glatt; die Männer errichteten also ein Gestell aus hölzernen Stufen, damit sie nicht wieder nach unten zurückrutschten. Außerdem bauten sie ein Podest aus gebrannten Ziegeln, auf dem sie das Feuer am Ende des Tunnels entzündeten.

      Als der Tunnel zehn Ellen weit in das Gewölbe reichte, blieben sie auf derselben Höhe und erweiterten ihn zu einem kleinen Raum. Nachdem die Bergarbeiter jeglichen von der Hitze geplatzten Stein entfernt hatten, übernahmen die Ägypter. Sie benutzten kein Feuer für ihren Abbau. Nur mit ihren Dolerithämmern machten sie sich daran, eine Schiebetür aus Granit zu konstruieren.


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