Eine Studie in Scharlachrot. Sir Arthur Conan Doyle

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Eine Studie in Scharlachrot - Sir Arthur Conan Doyle


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fehlen mir alle Einzelheiten,“ erwiderte er; „es ist ein grosser Irrtum, sich eine Theorie zu bilden, ehe man sämtliches Beweismaterial in Händen hat; das beeinflusst das Urteil.“

      „Sie werden bald genug Gelegenheit bekommen, Ihre Beobachtungen anzustellen,“ sagte ich; „hier sind wir schon in der Brixtonstrasse und das dort muss das Haus sein, wenn ich nicht sehr irre.“

      „Kein Zweifel. — Halt, Kutscher, halt! —“ Wir waren noch eine ziemliche Strecke entfernt, doch bestand er darauf, dass wir ausstiegen und das letzte Ende zu Fuss zurücklegten.

      Das Haus Nummer 3 machte einen düstern, unheimlichen Eindruck. Es gehörte zu einer Gruppe von vier Gebäuden, die etwas abseits von der Strasse lagen; zwei waren bewohnt, zwei standen leer. An den trüben Fensterscheiben der letzteren fielen nur hier und da die angeklebten Zettel in die Augen, auf denen ,Zu vermieten‘ stand. Jedes der Häuser hatte ein kleines Vorgärtchen, mit wenigen kränklichen Pflanzen auf den Beeten; mitten hindurch führte ein schmaler mit Kies bestreuter Pfad von gelblichem Lehm, der durch die Regengüsse der vergangenen Nacht völlig aufgeweicht worden war. Eine drei Fuss hohe Backsteinmauer, die ein hölzernes Gitter trug, bildete die Einfassung des Gartens. Am Gitterthor lehnte ein handfester Polizist, von einer Schar Neugieriger umringt, die ihre Hälse reckten und sich vergeblich abmühten, zu sehen, was drinnen im Hause vorging.

      Ich hatte erwartet, Sherlock Holmes würde sich sofort hineinbegeben, um seine Untersuchungen zu beginnen, Nichts schien ihm jedoch ferner zu liegen. Mit einer Gelassenheit, welche mir unter den obwaltenden Umständen unnatürlich erschien, schlenderte er vor dem Hause auf und ab, den Blick bald auf den Boden gerichtet, bald in die Luft, bald wieder nach dem Gitterzaun oder den gegenüberliegenden Häusern. Nach einer Weile betrat er den Kiesweg, das heisst, er ging auf dem Grasstreifen neben dem Pfad, die Augen forschend zur Erde gesenkt. Zweimal blieb er lächelnd stehen und ein Ausruf der Befriedigung entfuhr ihm. Es waren zwar viele Fussspuren in den nassen Lehmboden eingedrückt, sie konnten jedoch von den Polizisten herrühren, die gekommen und wieder gegangen waren. Wie mein Gefährte hoffen konnte, da noch etwas Wesentliches zu entdecken, begriff ich nicht; allein nach den Proben seiner Beobachtungskunst, die ich schon von ihm erhalten hatte, musste ich mir sagen, dass er ohne Zweifel vieles sah, was mir gänzlich verborgen blieb.

      An der Hausthüre kam uns ein grosser, blasser, flachshaariger Mann mit einem Notizbuch entgegen. Er eilte auf Holmes zu und schüttelte ihm mit grosser Wärme die Hand. „Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie kommen,“ sagte er, „alles ist noch ganz unberührt geblieben.“

      „Nur nicht der Fussweg,“ erwiderte mein Freund. „Wäre eine Büffelherde drübergelaufen, sie hätte ihn kaum mehr zertrampeln können. Natürlich haben Sie erst genaue Beobachtungen angestellt, Gregson, bevor Sie das zuliessen.“

      „Ich hatte drinnen im Haus zu viel zu thun,“ sagte der Detektiv ausweichend. „Mein Kollege Lestrade ist hier; ich dachte, er würde sich darum kümmern.“

      Holmes zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe und sah mich an. „Wo zwei Männer wie Sie und Lestrade an Ort und Stelle sind, hat ein Dritter nicht mehr viel zu suchen,“ bemerkte er.

      Gregson schntunzelte selbstgefällig, und rieb sich die Hände. „Wir haben gethan, was wir konnten; aber es ist ein wunderlicher Fall — ich kenne ja Ihre Vorliebe für dergleichen.“

      „Sind Sie in einer Droschke hergekommen?“

      „Nein, ich nicht.“

      „Aber Lestrade?“

      „Der kam auch zu Fuss.“

      „So? — Dann können wir wohl das Zimmter besehen.“

      Wie das zusammenhing, war mir nicht recht ersichtlich, auch Gregson machte ein verwundertes Gesicht, während er Holmes in das Haus folgte.

      Ein sehr staubiger, gedielter Korridor führte nach Küche und Speisekammer, rechts und links befanden sich noch zwei Thüren. Die eine mochte wohl wochenlang nicht geöffnet worden sein, die andere führte in das Zimmer, wo die geheimnisvolle Missethat verübt worden war. Holmes trat, dort ein, und ich begleitete ihn, von unheimlichen Gefühlen ergriffen, wie sie die Gegenwart des Todes uns einzuflössen pflegt. Das grosse, viereckige Gemach sah noch geräumiger aus, weil keine Möbel darin standen. Die grelle Tapete an den Wänden war hie und da mit Schimmel überzogen, an einigen Stellen hing sie in Fetzen herunter, so dass der helle Kalkbewurf zum Vorschein kam. Der Thüre gegenüber befand sich ein grosser, offener Kamin mit einem Gesims, an dessen einer Ecke ein rotes Wachslichtstümpchen klebte. Das einzige Fenster, welches den Raum erhellte, war mit einer Schmutzkruste überzogen, die nur ein mattes, ungewisses Licht hindurchliess. Die düstere, graue Beleuchtung passte so recht zu der dicken Staubschicht, welche auf der Zimmerdiele lagerte.

      Alle diese Einzelheiten fielen mir jedoch erst später auf. Anfangs richtete ich mein ganzes Augenmerk auf die leblose Gestalt, welche ausgestreckt am Boden lag, den stieren Blick nach der Decke gerichtet. Es war ein mittelgrosser Mann von etwa vierundvierzig Jahren, breitschulterig, mit krausem, schwarzem Haar und kurzem Stoppelbart. Sein Anzug bestand aus Rock und Weste von schwerem Doppeltuch, hellen Beinkleidern und tadellosem Weisszeug. Auch gehörte ihm wohl der glatt gebürstete, hohe Hut, den ich neben ihm sah. Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, die Fäuste geballt und die Beine fest übereinander geschlagen, wahrscheinlich im Todeskampf. In seinen starren Zügen lag ein Ausdruck des Entsetzens und eines so grimmigen Hasses, wie ich ihn noch nie zuvor in einem Menschenantlitz erblickt zu haben glaubte. Dieser bösartige Zug, dazu die niedere Stirn, die breite Stumpfnase und das vorstehende Kinn, gaben dem Toten ein widerliches, tierisches Aussehen, das durch seine gekrümmte, unnatürliche Lage noch abschreckender wurde. Ich habe den Tod schon in mancher Gestalt gesehen, aber nie hat er mir einen so grauenvollen Eindruck gemacht, wie in jenem öden Hause der Londoner Vorstadt.

      Der Geheimpolizist Lestrade hatte uns an der Stubenthüre empfangen. „Der Fall wird Aufsehen machen,“ sagte er mit Nachdruck; „ich bin wahrhaftig kein Neuling mehr, aber etwas Aehnliches habe ich noch nie erlebt.“

      „Wir suchen vergeblich nach einem Aufschluss,“ fiel Gregson ein.

      Sherlock Holmes war neben dem Leichnam niedergekniet, den er genau untersuchte.

      „Eine Wunde haben Sie also nicht entdeckt?“ fragte er, auf die zahlreichen Blutspuren am Fussboden deutend.

      „Nein, es ist keine zu finden,“ versicherten beide.

      „So rührt das Blut also von einem andern Menschen her, von dem Mörder vermutlich, wenn nämlich ein Mord verübt worden ist. Der Fall erinnert mich an Van Jansens Tod in Utrecht im Jahre 1834. Haben Sie den im Gedächtnis, Gregson?“

      „Nein, ich weiss nichts davon.“

      „Sie sollten die Geschichte nachlesen. Es giebt nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon dagewesen.“

      Während er sprach, fuhren seine geschickten Finger bald hierhin, bald dorthin; er drückte, befühlte, betastete alle Glieder und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass ich kaum begriff, wie er die einzelnen Ergebnisse seiner Untersuchung aufzufassen vermochte. Sein Blick trug dabei denselben geistesabwesenden Ausdruck, den ich schon öfter an ihm bemerkt hatte. Schliesslich roch er an den Lippen des Toten und betrachtete die Sohlen seiner feinen Lederstiefel.

      „Liegt er noch genau so, wie man ihn gefunden hat?“ fragte er.

      „Wir haben ihn untersucht, ohne ihn von der Stelle zu bewegen.

      „Gut, dann lassen Sie ihn jetzt nur ins Leichenhaus schaffen. Es ist nichts Thatsächliches mehr zu ermitteln.“

      Eine Tragbahre stand schon in Bereitschaft, und auf Gregsons Ruf kamen vier seiner Leute herbei. Als sie die Leiche aufluden, um sie fortzutragen, fiel ein Ring zu Boden und rollte über die Diele. Lestrade fuhr wie ein Stossvogel darauf zu, hob ihn auf und betrachtete ihn mit verblüffter Miene.

      „Der Trauring einer Frau — wie kommt der hierher?“ rief er.

      Wir starrten alle nach dem goldeiten Reif auf seiner flachen Hand; welche Braut mochte den am Finger getragen


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