Ängste von Kindern und Jugendlichen. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen - Wilhelm Rotthaus


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Angst vor Krankheiten, dem Sterben und vor dem Tod. Von ihren Eltern werden sie oft als fordernd und aufmerksamkeitsbedürftig beschrieben. Nicht selten zeigen sie eine hohe Impulsivität sowie eine Schutz- und Pflegebedürftigkeit.

      Symptomatik im Altersverlauf

      Störungen mit Trennungsangst haben unter den Angststörungen im Kindes- und Jugendalter den frühesten Beginn. Sie treten vorwiegend bei Kindern vor der Pubertät auf. Eine retrospektive Befragung von Kindern mit Trennungsangst oder Überängstlichkeit ergab, dass bei 46 % der Kinder die Störung über eine Dauer von mindestens acht Jahren anhielt und bei etwa einem Drittel der Kinder mehrere Episoden klinischer Angst auftraten (Keller et al. 1992, zit. nach Schneider u. In-Albon 2004, S. 111). Kinder mit Trennungsangst zeigen häufig weitere psychische Störungen, etwa ein Drittel der Kinder eine Komorbidität mit Depressionen; und etwa ein Fünftel der Kinder weist gleichzeitig eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten auf. Etwa 10 % der betroffenen Kinder zeigen eine Enuresis. Störungen mit Trennungsangst scheinen im Vergleich zu anderen Angststörungen im Kindes- und Jugendalter einen relativ ungünstigen Verlauf zu nehmen. Kinder mit Trennungsangst zeigen im Erwachsenenalter besonders häufig eine Panikstörung und/oder eine Agoraphobie.

       2.2.2.2 Spezifische Phobie

      Die siebenjährige Amelie, die die zweite Klasse der Grundschule besucht, wurde wegen verschiedener Ängste vorgestellt, die sie seit gut einem halben Jahr entwickelt habe, nachdem sie mit ihrer Oma im Aufzug stecken geblieben sei und eine halbe Stunde im Aufzug habe verbleiben müssen. Seitdem zeigt Amelie Angst, mit Aufzügen oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren sowie sich in geschlossenen Räumen alleine aufzuhalten. Da der Aufzug in der Arbeitsstätte der Mutter gewesen sei, mache Amelie sich jetzt ständig Sorgen, dass ihrer Mutter das Gleiche widerfahren könne. An diesen Gedanken knüpfe sie dann die Sorge, ob ihre Mutter sie auch von der Schule abholen werde. Während sie früher ihre Mutter gerne zu ihrer Arbeitsstätte begleitet habe, verweigere sie dies in den letzten Monaten, da ihr bereits der Anblick des Aufzugs Angst bereite. Auch seien Familienausflüge derzeit mit vielen Schwierigkeiten verbunden, da nie ganz klar sei, ob Amelie Angst entwickeln werde. In den Angstsituationen zeige sie erhebliche körperliche Reaktionen wie Herzklopfen, Zittern, Atemnot bis hin zu Erbrechen.

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      Phobos, der »Gott der Furcht«, ist Sohn des Kriegsgottes Ares und der Liebesgöttin Aphrodite. Ihm wird in der griechischen Mythologie die Fähigkeit zugesprochen, aufgrund seiner Erscheinung Feinde einzuschüchtern. So malte man sein Abbild auf die Schilder der Krieger, um den Gegner abzuschrecken. Sein Zwillingsbruder ist Deimos, der »Gott des Schreckens«. Üblicherweise dargestellt als Jugendliche, repräsentierten die beiden Brüder als Söhne der Liebesgöttin Aphrodite auch die Angst vor dem Verlust (Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology).

      Von einer spezifischen Phobie spricht man, wenn Kinder oder Jugendliche eine ausgeprägte Angst vor bestimmten Objekten (z. B. Spritzen), Situationen (z. B. Dunkelheit) oder Tieren (z. B. Hunden) zeigen, auch wenn seitens außenstehender Beobachter keine Gefahr zu erkennen ist. Sie beginnen dann, die gefürchtete Situation in zunehmendem Maße zu vermeiden oder aus ihr zu flüchten. Die häufigsten Inhalte spezifischer Phobien bei Vorschulkindern sind Fremde, Dunkelheit oder Tiere, bei Grundschulkindern Stürme, Gewitter und die Bedrohung der eigenen Sicherheit, bei den 12- bis 17-jährigen Tiere, Naturkatastrophen und spezifische Situationen wie enge Räume, Fahrstühle, Tunnel, hohe Brücken und Ähnliches. Bei genauerem Nachfragen sehen die Kinder, besonders die Jugendlichen, oft ein, dass ihre Angstreaktion unangemessen und übertrieben ist; diese Einsicht bringt aber keine Erleichterung. Sie kann bei jüngeren Kindern auch noch nicht vorhanden sein.

      Während der phobischen Reaktion kommt es bei den Kindern und Jugendlichen zu starken körperlichen Reaktionen wie Herzklopfen, Zittern, Schwitzen oder Bauchschmerzen. Sie nehmen schreckliche Konsequenzen, die im Zusammenhang mit dem befürchteten Reiz erwartet werden, gedanklich vorweg. Die Kinder suchen die Nähe ihrer Eltern oder sonstiger Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit geben. Sie klammern sich an sie an, weinen oder reagieren wie gelähmt. Manche Kinder zeigen auch ein aggressives Verhalten; sie schreien, haben Wutanfälle oder schlagen um sich.

      Symptomatik im Altersverlauf

      Eine zuverlässige Aussage über den Verlauf von Phobien im Kindes- und Jugendalter kann nach derzeitigem Forschungsstand nicht gemacht werden. Schneider (2004c, S. 136) sieht einen Grund hierfür darin, dass früher angenommen worden sei, die meisten Kinderängste würden sich ohnehin schnell wieder verlieren. Dabei sei aber möglicherweise unberücksichtigt geblieben, dass sich in vielen Fällen lediglich die Angstinhalte geändert hätten. Würde man die Häufigkeit spezifischer Phobien unabhängig vom spezifischen Inhalt betrachten, wiesen jüngere Untersuchungen darauf hin, dass spezifische Phobien in höherem Alter eher zunehmen würden. Phobien im Kindes- und Jugendalter scheinen ein Risiko für eine zweite Störung darzustellen und zumeist chronisch zu verlaufen. Das stimmt mit dem Befund überein, dass Phobien Erwachsener in der Regel bereits im Kindes- und Jugendalter beginnen.

       2.2.2.3 Soziale Phobie

      Johanna, 17 Jahre, ist seit der Kindergartenzeit zurückhaltend, schüchtern und introvertiert. Die Probleme nahmen mit den Jahren zu. In der Grundschule und später in der Hauptschule hat Johanna sich immer mehr verschlossen. Sie geht nicht auf Menschen zu und knüpft keine Kontakte, vermeidet jegliche Konfliktsituation und traut sich kaum, eine eigene Meinung zu äußern. Die Jugendliche hat in allen Lebensbereichen Angst davor, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, sich peinlich zu verhalten. Johanna schämt sich, in der Öffentlichkeit zu essen oder mit jemandem zu reden und zeigt inzwischen generell Angst, sich außerhalb des häuslichen Rahmens aufzuhalten. Die Patientin hat das Gefühl, dass alle sie bewerten und denken, wie dick, hässlich und dumm sie sei. Johanna mochte nie ihren adipösen Körper, aber jetzt sagt sie, sie hasse ihn. In sozialen Situationen zeigt sie physiologische Symptome wie Zittern, Schwitzen und Erröten; seit Kurzem verstummt sie in angstbesetzten Situationen völlig. Im Übrigen klagt Johanna über eine gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und übermäßige Müdigkeit.

      Mit der zunehmenden Fähigkeit, Situationen aus der Perspektive eines anderen zu betrachten und zu beurteilen, treten bei Kindern, die auf die Pubertät zugehen, Ängste vor sozialer Beurteilung als Teil der normalen Entwicklung auf. Sie stellen sich zunehmend die Fragen »Wer bin ich?« und »Wie sehen mich die anderen?«. Es tauchen dann auch Selbstzweifel auf und Sorgen darüber, wie sie nach außen wirken und was andere über sie denken könnten. Derartige Episoden sozialer Angst sind Teil der normalen Entwicklung. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln in diesen Auseinandersetzungen das Erleben einer eigenen Identität und eine wachsende Unabhängigkeit von ihren Eltern.

      Von einer sozialen Phobie kann erst gesprochen werden, wenn Kinder oder Jugendliche eine dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen zeigen. In diesen Situationen oder bei ihrer gedanklichen Vorwegnahme treten physiologische Reaktionen auf in Form von Herzklopfen, Zittern, Schwitzen, Erröten, Kälteschauern, Schwächegefühl, Übelkeit und einer veränderten Atmung. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln als kognitive Reaktionen eine Flut negativer Gedanken über eigene Unzulänglichkeiten und die daraus folgende Unfähigkeit, mit der jeweiligen sozialen Situation umzugehen. Die sozialen Ängste drücken sich beispielsweise aus in Stottern, geringem Augenkontakt und Nägelkauen. Viele Jugendliche glauben, dass die anderen an ihren körperlichen Reaktionen ihre verborgenen Gefühle ablesen können, wodurch sie noch ängstlicher werden und in einen Teufelskreis zunehmender Angst geraten.

      Die häufigste Angst von Kindern und Jugendlichen mit sozialer Phobie besteht darin, vor anderen Menschen etwas falsch zu machen: Sie fürchten, dass etwas Peinliches geschieht und dass sie für dumm oder schwach gehalten werden. Sie haben Angst, sich in der Schule zu melden, weil sie fürchten, eine


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