Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes. Georges Simenon

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Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes - Georges  Simenon


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Janvier ist ihm auf der einen Straßenseite gefolgt, ich auf der anderen. Nicht die kleinste Bewegung ist uns entgangen … Ach, warten Sie! Einmal ist er vor einem Wurststand stehen geblieben, hat kurz gezögert und ist dann weitergegangen, vielleicht weil er einen uniformierten Polizisten gesehen hat.«

      »Hattest du nie den Eindruck, dass er nach einer bestimmten Adresse sucht?«

      »Überhaupt nicht! Man hätte ihn eher für einen Betrunkenen halten können, der dorthin torkelt, wo Gott ihn hinschubst … Bei der Place de la Concorde kamen wir wieder an die Seine. Auf einmal fällt ihm ein, die Quais entlangzugehen … Zwei-, dreimal hat er sich hingesetzt.«

      »Wo?«

      »Einmal auf der Brüstung, dann auf einer Bank. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, er hat geweint. Jedenfalls hat er das Gesicht in den Händen vergraben.«

      »Saß da sonst noch wer?«

      »Nein … Dann ging es weiter … bis Moulineaux, stellen Sie sich das mal vor! Ab und zu ist er stehen geblieben, um aufs Wasser zu schauen. Die ersten Frachtkähne sind vorbeigeschippert. Dann strömten die Fabrikarbeiter auf die Straßen. Und er ist immer weitergegangen, immer weiter, wie einer, der überhaupt keine Idee hat, was er machen soll.«

      »War’s das?«

      »So ziemlich … Warten Sie! Am Pont Mirabeau hat er was aus der Tasche genommen …«

      »Zehn-Franc-Scheine?«

      »Ja, so sah es aus. Dann hat er sich umgeschaut, wahrscheinlich nach einem Bistro. Am rechten Ufer war aber nichts offen. Also ist er rüber auf die andere Flussseite und hat dort in einer kleinen Bar unter lauter Taxifahrern einen Kaffee und ein Glas Rum getrunken.«

      »Im Citanguette?«

      »Nein, noch immer nicht! Janvier und ich waren schon ganz schwach auf den Beinen. Und wir konnten nicht mal was trinken, um uns aufzuwärmen! … Dann ist er wieder los … über viele Wege und Umwege. Janvier hat sich alle Straßen notiert und wird Ihnen einen detaillierten Bericht abliefern … Schließlich sind wir wieder auf den Quais gelandet, in der Nähe einer großen Fabrik. Dort ist es völlig ausgestorben.

      Ein paar Büsche und eine Wiese zwischen zwei Haufen Baumaterial … Um einen Kran herum hatten vielleicht zwanzig Frachtkähne festgemacht.

      Jedenfalls würde man dort nie so einen Gasthof erwarten wie das Citanguette: ein kleines Bistro, in dem man auch was essen kann … rechts ein Schuppen mit einem Pianola und einem Schild: Samstags und sonntags Tanz.

      Unser Mann trinkt noch einen Kaffee und einen Rum. Dann bestellt er Würstchen, auf die er sehr lange warten muss. Er spricht mit dem Wirt, und eine Viertelstunde später sehe ich die beiden in den ersten Stock verschwinden.

      Wie der Wirt runterkommt, bin ich rein und habe ihn direkt gefragt, ob er Zimmer vermietet.

      ›Warum?‹, fragt er. ›Stimmt was nicht mit dem?‹

      Anscheinend hat er schon öfter mit der Polizei zu tun gehabt. Täuschungsmanöver zwecklos. Also hab ich ihn lieber eingeschüchtert. Und ihm gedroht: Wenn er seinem Gast auch nur ein Wort sagt, wird seine Bude dichtgemacht.

      Er hat ihn vorher nicht gekannt, da bin ich mir sicher. Die Stammkundschaft besteht aus Flussschiffern und Arbeitern aus der Fabrik nebenan, die um Punkt zwölf auf einen Aperitif vorbeischauen.

      Heurtin hat sich wohl, kaum dass er im Zimmer war, aufs Bett geworfen und nicht einmal seine Schuhe ausgezogen. Als der Wirt ihn darauf aufmerksam gemacht hat, hat er sie von sich geschleudert und ist sofort eingeschlafen.«

      »Ist Janvier noch dort?«, fragte Maigret.

      »Ja. Man kann ihn anrufen, das Citanguette hat Telefon, weil die Flussschiffer sich oft mit ihren Auftraggebern in Verbindung setzen müssen.«

      Der Kommissar nahm den Hörer ab. Ein paar Augenblicke später war er mit Janvier verbunden.

      »Hallo! Was macht unser Mann?«

      »Schläft.«

      »Niemand Verdächtiges?«

      »Nichts. Alles ruhig. Man hört sein Schnarchen bis ins Treppenhaus.«

      Maigret legte auf und maß den kleinen Kerl vor sich von Kopf bis Fuß.

      »Du lässt ihn doch nicht entkommen?«

      Dufour wollte protestieren. Aber der Kommissar legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr mit ernsterer Stimme fort: »Hör zu, mein Bester! Ich weiß, dass du dein Möglichstes tust. Aber ich riskiere damit meine Stellung! Und noch einiges mehr … Andererseits kann ich nicht selbst dorthin, weil der blöde Kerl mich ja kennt …«

      »Ich schwöre Ihnen, Kommissar …«

      »Schwör lieber nicht! Geh jetzt!«

      Schnell schob Maigret die Unterlagen wieder in den Ordner und steckte diesen in eine Schublade.

      »Vor allem: Sag sofort Bescheid, wenn du dort Leute brauchst …«

      Das Foto von Joseph Heurtin war auf dem Schreibtisch liegen geblieben, und Maigret starrte eine Weile auf den knochigen Schädel mit den abstehenden Ohren und den langgezogenen, fahlen Lippen.

      Es gab drei psychiatrische Gutachten. Zwei bescheinigten ihm:

       Mäßige Intelligenz, volle Schuldfähigkeit.

      Das dritte, von der Verteidigung in Auftrag gegeben, wagte die Diagnose:

       Erbliche Belastung, verminderte Schuldfähigkeit.

      Maigret, der den Mann verhaftet hatte, hatte dem Polizeichef, dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter gegenüber behauptet:

      »Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«

      Und das werde er auch beweisen.

      Aus dem Flur war zu hören, wie Inspektor Dufour sich tänzelnd entfernte.

      2 Der Schlafende

      Nach einem kurzen Treffen mit Richter Coméliau, der sich immer noch nicht beruhigen konnte, kam Maigret um elf Uhr nach Auteuil.

      Es war ein grauer Tag, das Pflaster schmutzig, der Himmel hing tief über den Dächern. An dem Ufer, das der Kommissar entlangging, stand eine Reihe stattlicher Häuser, während die andere Seite mit ihren Fabriken, Brachen und Bergen von Baumaterial auf den Ladequais eher nach Vorort aussah.

      Dazwischen lag bleigrau die Seine, aufgewühlt von flussauf, flussab fahrenden Lastkähnen.

      Das Citanguette war aus der Entfernung leicht zu erkennen, denn der Gasthof stand einsam auf einem Gelände, wo alles Mögliche herumlag: Backsteine, Autowracks, Dachpappe, sogar Eisenbahnschienen.

      Ein einstöckiger Bau in einem scheußlichen Rot, davor eine Terrasse mit drei Tischen und die übliche Markise mit der Aufschrift Wein – Imbiss.

      Schauerleute, die offenbar Zement geladen hatten, da sie von Kopf bis Fuß weiß waren, verabschiedeten sich mit Handschlag von einem Mann in blauer Schürze und schlenderten dann zu einem am Ufer festgemachten Schiff.

      Maigret sah müde aus und hatte trübe Augen, aber das lag nicht an der durchwachten Nacht.

      So war es immer: Wenn ein Ziel, das er lange hartnäckig verfolgt hatte, zum Greifen nah war, ließ er sich gehen.

      Eine Art Überdruss, gegen den er nicht ankam.

      Er steuerte ein Hotel direkt gegenüber dem Citanguette an und trat an die Rezeption.

      »Ich möchte ein Zimmer mit Blick auf die Seine.«

      »Für länger?«

      Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht der beste Moment, ihm dumm zu kommen.

      »Solange ich es brauche! Kriminalpolizei …«

      »Wir haben nichts frei.«


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