Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4. Inger Gammelgaard Madsen
Читать онлайн книгу.glücklichen zehnjährigen Jungen tun. Es war ein Unfall gewesen. Einfach nur ein tragischer Unfall. Verkehrsunfälle passieren jeden Tag. Danny war schuldlos. So war das. Alle sagten, dass es so war.
»Ich mein’s ernst, Kamilla.« Anne kam resolut in die Küche getreten und stellte sich hinter sie. Kamilla löffelte Kaffeepulver in den Filter.
»Es muss etwas wirklich Ernstes sein, wenn er seine eigene Tochter verleugnen will, nur um es zu verbergen. Bist du nicht auch neugierig, was da passiert ist?«
Kamilla warf den Kaffeelöffel zurück in die Dose, schaltete die Kaffeemaschine an und drehte sich dann zu Anne um.
»Willst du mir helfen, es herauszufinden?«, fragte sie.
6
Roland sah dem Auto von der Treppe aus nach. Marianna saß wie eine kleine Prinzessin auf dem Rücksitz und winkte wie Königin Margrethe. Lächelnd winkte er zurück. Er hatte es immerhin noch rechtzeitig nach Hause geschafft, damit sie alle zusammen hatten essen können – das aber nur, weil sie auf ihn gewartet hatten. Das Auto verschwand aus dem Villenweg. Er blieb noch einen Augenblick stehen und sog die Luft ein. Genoss den Duft des Frühlings in der Nase und den Anblick von Irenes Blumenbeeten, die sich nach der harten Prüfung des Winters nun zurück ins Leben kämpften. Irene hatte sich darangemacht, in der Küche aufzuräumen. Er konnte sie durchs Küchenfenster sehen. Trotz ihrer vierundfünfzig Jahre – sie war etwas jünger als er – waren es nicht die Falten, die in ihrem herzförmigen Gesicht dominierten. Obwohl sie immer mit ihrem Gewicht kämpfte, fand er eigentlich nicht, dass sie auch nur ein Gramm abnehmen müsste. Frauen sollten runde Formen haben. In ihren Haaren fand sich keine graue Strähne, dafür sorgte der Friseur. Heute hatte sie sich das Haar locker auf dem Kopf festgesteckt, sodass Hals und Nacken zu sehen waren.
Er stand auf der Treppe, während ihn die frische Luft ein wenig frösteln ließ, und genoss den Anblick. Freute sich darüber, dass diese Frau die seine war, und das schon so lange, dass sie die Jahre nicht länger zählten. Hübsch war sie, wie immer, trotz des etwas unnahbaren Ausdrucks, der in letzter Zeit über ihrem Gesicht lag. Während des Essens hatte sie nicht viel geredet. Marianna hatte wie gewöhnlich lustig geplaudert, und er hatte mit Rikke ein bisschen über Alltagsdinge und Politik diskutiert. Sie waren sich selten einig, da sie beide unterschiedlichen Flügeln angehörten, aber sie bekamen sich auch nie wirklich in die Haare; so viel bedeutete die Politik ihnen beiden auch wieder nicht. Irenes Schweigen bedrückte ihn. Er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. Hätten sie Salvatore bloß hierbleiben lassen und ihn nicht nach Hause auf die Straßen Neapels und in die Gewalt der Camorra geschickt. Verdammt! Ergrimmt fuhr er sich durch das dichte dunkle Haar. Sein Friseur hielt sich immer mit dem Kürzen zurück; er meinte, die grauen Haare an den Schläfen würden ihn nur maskuliner machen. Irene sagte das Gleiche. Er ging zu ihr hinein und stellte Teller und Gläser in die Spülmaschine.
»Warum hast du dein Handy ausgeschaltet? Ich habe versucht dich anzurufen, weil ich spät dran war.«
Irene zuckte zusammen. »Gott, ich hab vergessen, es wieder anzumachen. Ich hab es ausgemacht, damit ich nicht gestört werde, wenn Rikke und Marianne schon mal hier sind. Schließlich kommen sie nicht alle Tage, und da …« Sie drehte ihm den Rücken zu und stellte etwas in den Kühlschrank.
»Als ob dein Handy sonst ständig bimmeln würde«, murmelte er.
»Entschuldigung, Rolando.«
»Ach, egal, so wichtig war es jetzt auch wieder nicht …«
Die Spülmaschine war voll. Ihr leises Brummen und Plätschern waren die einzigen Geräusche, die man in der Stille hörte. Der orangefarbene Knopf leuchtete im Halbdunkel der Küche. Roland schielte zu Irene hinüber, sie versuchte, sich aufs Lesen zu konzentrieren, aber er sah deutlich, dass es nicht klappte. Erneut ertappte er sich dabei, wie er sie beobachtete. Einer kritischen Prüfung unterzog. Als sei sie ein Verbrecher, der in wichtigen Ermittlungen eine entscheidende Information verheimlicht. Angolo war nach dem Besuch des fordernden Enkelkindes müde und lag ausgestreckt auf seiner Decke, zufrieden, dass das normale, ruhige Dasein zurückgekehrt war. Sein Brustkorb hob und senkte sich ruhig im Schlaf.
»Du zeigst dich doch sonst nicht so bereitwillig im Fernsehen. Was sagt Kurt Olsen dazu?«, meinte Irene, nachdem sie seinen Auftritt in den Spätnachrichten gesehen hatten. Sie griff wieder nach ihrem Buch, das auf dem Tisch lag, ein Lesezeichen ungefähr in der Mitte.
»Die Frage ist eher, was sagt er dazu, dass ich mich in diesen Fall einmische, wo er doch all diese Erinnerungen in mir weckt. Du weißt schon, an die Sache mit …«
»Salvatore«, beendete Irene den Satz, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Es hätte ein ganz gewöhnlicher, gemütlicher Abend werden können, aber wieder lag die Last des Ungesagten über allem. Vielleicht war ja er derjenige, der das Wort ergreifen sollte, wohin auch immer das führen mochte. Er räusperte sich. »Ich habe heute mit Giovanna gesprochen.«
Irene schaute von ihrem Buch auf. Abwartend.
»Sie wirft uns nichts vor, Irene. Sie versteht sehr gut, dass wir Salvatore nicht mehr bei uns wohnen lassen konnten. Er war mehrere Monate hier. Wäre sein Leben verschont geblieben, wenn er noch den Rest des Jahres hier gewesen wäre? Die Mafia vergisst nie.«
»Das weiß ich, Rolando. Aber trotzdem kommt einem dieser Gedanke: Wenn er nun doch – schließlich bin ja ich es gewesen, die nicht …«
»So etwas darfst du nicht denken. Es war nicht unsere Schuld.« Vielleicht versuchte er eher sich selbst als Irene zu überzeugen. Ihr Blick war wieder auf das Buch gerichtet. Sie ließ ihn links liegen, und das tat weh, aber er wusste auch, dass er versuchen musste, sich zu beherrschen, wenn er zu ihr durchdringen wollte. »Was liest du da?«
Sie drehte das Buch um und warf einen Blick auf die Titelseite, als wisse sie es selbst nicht genau. »Das ist ein Buch über Sozialpolitik«, antwortete sie.
»Also Arbeit«, stellte er mit einem Lächeln fest.
Sie nickte.
»Irene, hör mal. Ich mache dir auch keine Vorwürfe, wir beide …«
»Wer sagt denn, dass ich glaube, du würdest mir Vorwürfe machen? Oder dass Giovanna das tun würde?« Ihre Stimme war hart. So hatte er sie nicht mehr gehört, seit er versucht hatte, die Villa, ihr Elternhaus, hinter ihrem Rücken zu verkaufen. Angolo hob den Kopf.
»Wir müssen über das hier reden. Seit der Beerdigung bist du so schweigsam. Was ist los?«
Irene schloss das Buch. Ihr eingelegter Daumen verhinderte, dass es zuklappte und sie die Seite neu würde suchen müssen. Das Lesezeichen lag auf dem Tisch. »Das ist für uns alle ein schreckliches Erlebnis gewesen. Salvatore war viel zu jung, um zu sterben. Und dann noch auf diese Weise! So überflüssig. Natürlich hat uns das verändert.«
»Soll das heißen, dass wir nun den Rest unserer Tage so verbringen sollen?«
»Wie meinst du das?«
»Du sagst nichts. Du weichst meinem Blick aus. Ich merke doch, dass irgendetwas nicht stimmt.«
»Ach, der Polizist wieder.« Es war ein höhnischer Ton, der ihn traf.
»Ja, natürlich bemerke ich so etwas. Das ist ein Teil meiner Arbeit: Verhaltensweisen zu analysieren – und es sollte auch ein Bestandteil deiner Tätigkeit sein.«
»Was weißt du schon über meine Arbeit?«
War es das, was nicht stimmte? Interessierte er sich nicht genug für das, was sie machte? Vielleicht war das richtig, oft ging es nur um seine Fälle, aber doch auch nur, weil sie fragte und interessiert wirkte.
»Ja, dann erzähl mir davon, Irene. Du erzählst ja nie etwas über deine Arbeit.«
»Ich finde, wir sollten lieber über unsere Familie reden.«
»Ach Mensch, es geht wieder um Olivia. Natürlich, warum habe ich nicht gleich daran gedacht. Aber es ist sie, die nichts von ihrem Vater wissen will, nicht umgekehrt, also rede lieber mit ihr darüber.«