Die letzte Fähre ging um fünf. Günter Wendt
Читать онлайн книгу.Decke gehüllt auf einem Stuhl saß und etwas Heißes trank. Der Chef gab einen Wink, und ein junger Bursche trabte los. Nach 15 Minuten kam er zurück.
„Alles klar oben. Fenster haben gehalten und das Dach scheint unbeschädigt zu sein. Das grenzt an ein Wunder, Chef.“ Der erwiderte nur: „Ist ja alles für viel Geld sturmsicher gemacht worden.“ Damit schien für ihn der Fall erledigt zu sein.
Kolle war es egal. Während draußen der Orkan wieder zunahm, freute er sich unter der Dusche, dass er noch warmes Wasser hatte. Allerdings ohne Kommentare der sprechenden Dusche Betty.
Als er nach seiner Kleidung im Schein der Taschenlampe suchte, gingen die Lichter wieder an. Nach einem Flackern erloschen sie wieder. Dann gab es wieder Strom. Kolle wartete etwas ab, bevor er seine Lampe ausschaltete. Als er nach zwei Minuten immer noch Licht hatte, atmete er auf.
Auf dem Flur traf er Onne, der gerade eines der nicht belegten Zimmer verließ. Die Hose, die man ihm gegeben hatte, war an den Beinen mehrmals umgeschlagen und das viel zu große Sweatshirt schlabberte an seinem Körper.
„Sag nichts!“, wies dieser Kolle mit einem Finger drohend zurecht.
„Ich sag ja nichts. Ich stelle mir vor, wie deine geliehene Unterhose aussehen mag.“
„Welche Unterhose?“, erwiderte Onne trocken.
Jetzt mussten beide lauthals lachen. An der Bar orderte er als Erstes zwei dreifache Whiskeys. Irischen wollte er jetzt haben. Ohne Eis und ohne Wasser.
Zum Hotelchef, der in der Küche stand, um mit dem Koch die Lebensmittellisten durchzugehen, sagte er: „Sie können die Gäste in ihre Zimmer schicken. Wir versuchen, eine Runde zu schlafen. Bei dem Wetter flüchtet niemand. Schließen Sie aber alle Türen sorgfältig ab. Und ihre Angestellten bleiben bitte auch im Haus. Niemand verlässt das schwankende Schiff.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Gibt es was Neues vom Techniker?“
Der Hotelchef schien erleichtert zu sein, als er sagte: „Ja. Er hat sich eben über sein Funkgerät gemeldet. Sieht übel aus, aber er meint, er könne es provisorisch richten.“
Als Kollerup und Onne in den tiefen Clubsesseln hingen, zündete Kolle sich zwei Zigaretten an. Mit Spezialtabak. Das hatte er sich verdient, fand Kolle, und bot Onne auch einen Joint an. Der zuckte nur einmal mit einer Augenbraue und nahm das Angebot an. Irgendwann saßen sie kichernd und trinkend – der Barkeeper war so nett gewesen, die Flasche auf die Theke zu stellen – in den bequemen Loungesesseln und lauschten leiser Fahrstuhlmusik. Es blieb nicht bei einem Joint. Stunden später dämmerten sie zu den Klängen von ACDCs Whole lotta Rosie, natürlich in einer kitschigen Piano-Lounge-Version, in einen leichten Schlaf.
„Gottlob hat Angus damals nicht Klavier gelernt, sondern Gitarre“, hauchte Onne noch.
Hotel
Erster Tag nach dem Unwetter
08:00 Uhr
Der nächste Morgen erwachte genauso wie unsere beiden Helden in der Bar: grau und vernebelt. Jemand hatte die Musik gewechselt.
„Soll wohl aufmunternd sein“, stöhnte Kollerup. Bei diesem Musiksirup kam er nicht auf Touren! Er schleppte sich zur Rezeption.
Per Klimmzug zog er sich am Tresen hoch und lallte mit schwerer Zunge: „’allo! Jeman’ da?“ Maik kam aus dem Büro.
„Moin, Herr Kommissar!“, begrüßte er Kollerup.
„Pschscht!“ Kolle zischte mit Zeigefinger am Mund: „Nich’ so laut!“
Entschuldigend hob Maik beide Hände und etwas leiser: „Was kann ich für Sie tun?“
„Sie könn’ mir sagen, wie ich normale Musik hören kann.“
„Normal?“
„Ja, normale Musik. Rockmusik, handgemacht. Normale, wie sie jeder normale Mensch hört.“
„Rock?“
„Ja.“
„Moment.“ Er ging ins Büro. „ACDC und so?“, rief er.
„Nicht heute Morgen! Irgendwas 60er-Jahre oder 70er-Jahre.“
„Pink Floyd?“
Kolle stöhnte erleichtert. „Ja!“
Sekunden später erklangen die ersten Noten von Shine on you crazy diamond.
„Sie haben mir das Leben gerettet, Maik!“
„Aus meiner Privatsammlung. Pink-Floyd-CD-Box.“
Zurück im Restaurant roch es nach Kaffee. Vorsichtigen Schrittes schlich Kollerup zur Anrichte, wo das Frühstück vorbereitet wurde, und schnüffelte an der Kaffeekanne. Hab’ ich es gewusst, triumphierte er innerlich. Letzte Dröhnung der schwärzesten Röstung. Onne schlürfte an einer Tasse und sog dieses Teerzeugs in sich hinein.
„Wenn ich auch so erschossen aussehe wie du, können wir locker in einem Zombiefilm mitspielen!“, begrüßte ihn sein neuer Freund.
„Ja, sicher, und das schwarze Zeugs schmieren wir uns ins Gesicht, das wird hammergruselig.“
Kolle wollte einen normalen Filterkaffee, den er bei Nele bestellte, die heute aussah, als ob sie auf einer Schönheitsfarm übernachtet hatte. Er setze sich. Kaum hatte er seinen Kaffee, kam Budnik, der Hotelchef.
„Guten Morgen, Herr Kommissar. Schlechte Nachrichten. Die Stromzufuhr vom Festland, das Festnetz und Satellitenverbindung sind unterbrochen.“
„Waren Sie schon draußen?“
„Ja. Der Anleger ist total zerstört. Da kann in den nächsten Tagen kein Schiff anlegen.“
„Das ist gut. Dann kann auch niemand flüchten“, freute sich Kolle.
„Ist eh gerade Hochwasser“, meinte Budnik. Kolle nickte und trank dankbar seinen normalen Kaffee.
„Aber“, der Hotelchef hob einen Finger, „wir haben Radioempfang!“
„Super!“
„Aber es sieht auf dem Festland nicht gut aus. Mehrere kleinere Schiffe, die an Land geworfen worden sein sollen, abgedeckte Häuser, entwurzelte Bäume. Gottlob keine Toten, allerdings mehrere hundert Menschen verletzt. THW und Bundeswehr räumen gerade auf. Vor morgen früh ist nicht mit einer Fähre zu rechnen. Die Inseln sind glimpflich davongekommen. Wie es auf den anderen Halligen aussieht, ist nicht bekannt.“
Kolle dachte nach. „Hubschrauber!“, rief er einem Einfall folgend.
„Alle im Einsatz, wie es heißt. In den Nachrichten und Sondersendungen wird berichtet, dass alle verfügbaren Helikopter in der Luft seien. An die Halligen und Inseln wird appelliert, noch einen Tag durchzuhalten.“
„So, heißt es das? Gut.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich möchte gerne den Toten untersuchen. Meine dürftigen Kenntnisse müssen dieses Mal ausreichen. Ab elf Uhr werde ich erste Befragungen durchführen. Stellen Sie bitte sicher, dass sich Ihre Gäste dann zur Verfügung halten. Aber jetzt muss ich etwas essen.“
Nach dem Frühstück ging er mit Onne vor die Tür. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Vom Wattenmeer war nicht viel zu sehen. Dichter Nebel begrenzte die Sicht auf höchstens 20 Meter.
„18 Grad“, sagte Onne mit einem Blick auf das Außenthermometer. Das, was sie sehen konnten, sah auf den ersten Blick nicht anders aus als sonst. Dann schlenderten sie den Rundweg entlang und mussten mehreren Baumresten ausweichen.
„Bäume!“, rief Kolle erstaunt.
„Ja. Vermutlich vom Festland oder von Hooge drüben. Weiß der Geier“, erwiderte Onne.
Vom Anleger war nichts übrig. Bestes Tropenholz und Eichenstämme, einfach weg. Dann wandten sie sich zur Kapelle. Onne war schon sehr nervös.
Als sie dort ankamen,