Das sechste Gebot. Max Geißler
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Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Aus der schlanken Ninetta war inzwischen eine runde Nina geworden. Die war sie geworden trotz des scheelsüchtigen Schicksals.
Nun, da dies neidische, hartnäckige Missgeschick mit Frau Nina Zeni in Santa Croce weniger zu hadern schien, lebte sie in Faulheit und Sonne ihre Tage dahin. Und über der Wahrnehmung, dass alles Leid der vielen Jahre die kecken Ringlein der Haare um ihre breite Stirne nicht hatte verstauben können, begann ihr Herz versöhnlich zu werden.
Warum sollte Nina Zeni auch nicht mehr hoffen?
War ihr Haar nicht noch schwarz wie das Gefieder der Dohlen, die um das Felskirchlein von Santa Croce kreisten? War ihr Blut nicht noch heiss wie die Gluten des Sommers? Besass sie nicht ein Haus in Santa Croce, ein Nest, in dem sich’s erst zu zweien recht froh sein liess? Warum sollte Nina Zeni also nicht hoffen? —
„Teresina Margiotta,“ pflegte sie zu der schönen glutäugigen Frau des Geierjägers zu sagen, „eine Frau, die die Hoffnung auf Liebe verloren hat, hat auch das Recht auf Liebe verloren; und eine Frau, deren Lippen nicht mehr nach der herben Süsse des Männerkusses dürsten, welkt über Nacht und ist eine entblätterte Rose.“
Das wusste Teresina Margiotta längst.
„Du hast recht, Ninetta!“ sagte sie. „Und deine Lippen, die so schön reden, müssen noch immer so süss sein wie reife Feigen.“
Dabei sah die blankäugige Teresina Margiotta so ernsthaft auf die breite Matrone, dass die keinen Schatten der Falschheit in der sonnigen Helle dieser Augen erkannte, wie forschend sie auch danach suchte; und sie hörte zwischen dem silbernen Falle der Worte nicht das heimliche Lachen des Hohns.
Darum nickte Frau Nina befriedigt und mit einer Anmut, die selbst die graziöse Teresina Margiotta so überraschte, dass sie rief: „O Ninetta, einst bist du schöner gewesen als eine Königin!“
Frau Nina horchte auf. Teresina trat zu ihr.
War da nicht wieder das giftige Zischen der Schlange zwischen den sanften Worten?
„Einst?“ fragte sie lauernd.
„Nun ja, Ninetta, meine liebe dicke Ninetta!“
Dabei glitten Teresinas braune Hände, um deren Gelenke das matte Silber der Armketten klang, kosend über Ninas Wangen. Denn sie wusste: Nina Zenis faule Gutmütigkeit konnte durch ein unbedachtes Wort aufgescheucht werden, und dann konnte die gute, dicke Ninetta eine fürchterliche Löwin sein.
Darum fielen die Worte nun von Teresinas Lippen wie Perlen und fielen als erfrischender Tau über Ninas rundliche Fülle und auf ihr heimliches Hoffen: „Nun ja, Ninetta, meine liebe, schöne Ninetta — einst! Vor Jahren warst du die leuchtende Sonne, und heute bist du schön wie der sanfte Glanz des vollen Mondes, der die Klüfte von Santa Croce erquickt. Ist das nicht so, Ninetta? Und ist das runde Gesicht des Mondes in seiner Milde nicht viel lieblicher als die heisse Schönheit der Sonne?“
So redete Teresina Margiotta mit Nina Zeni.
Es war ganz sommerstill in der Steilgasse des Bergnestes; kaum, dass ein Kind einmal den Weg herniedereilte, kaum, dass ein Hahnenschrei über eine der grauen Mauern sich herüberfand, auf denen der Tag die Kräuter zwischen den Steinen versengte.
Auf einmal — da hallten von unten her Schritte auf den Fliesen der engen steilansteigenden Gasse; die klangen näher, und die plaudernden Frauen hielten den Atem an.
„Hörst du, Teresina?“
„Ich höre, Ninetta.“
„Was meinst du, Teresina?“
„Was soll ich dir sagen? Es werden Fremde sein.“
„Deutsche, Teresina Margiotta! Sie treten auf wie die Bären ...“ behauptete Nina.
„Wer sollte auch sonst um diese Stunde bei lebendigem Leibe sich rösten lassen als ein Deutscher?“ bestätigte Teresina. Dabei hatte sie einen Schritt rückwärts getan und bog sich nun hintenüber, um zu spähen.
Wenn Nina in diesem Augenblicke nicht mit all ihren Sinnen den Unsichtbaren entgegengeeilt wäre — der Neid hätte ihr angesichts dieser schlanken Schönheit Teresinas das Herz gefressen!
Aber sie sah nicht einmal die granatroten Pantoffeln mit den zierlichen Absätzen, die die Frau des Geierjägers an den blossen Füssen trug; und nicht einmal ihr heisser Wunsch, solch niedliche Pantoffeln zu besitzen, war in dieser Stunde rege.
Da schritten die Fremden auch schon unter dem Torbogen hindurch, der bei dem Hause Giulio Margiottas quer über die schmale Gasse sich wölbte, unter jenem Torbogen, in dessen Rissen die Feige wurzelte und von dem hernieder der Ginster im Mai den goldenen Regen seiner Blüten schüttete.
Es war ein Paar hochgewachsener schöner Menschen, die nun langsam und mit allen Zeichen der Erschöpfung näher kamen. Die qualvolle Glut der Felsensteige um Santa Croce lastetete auf ihnen. Der Mann trug einen schwarzen Vollbart und war für seine Schlankheit fast zu schmal; oder die Fülle des Bartes täuschte über die Zahl seiner Jahre. In der Hand trug er einen grauen Schlapphut.
Um die Stirne der Frau zogen sich die sanft gewellten Scheitel eines seidenweichen Haares, so weich und golden, dass die Blicke der Frauen von Santa Croce in den folgenden Tagen von weiter nichts reden würden — dachte Teresina Margiotta — als von der seidenen Flut über den Schläfen der deutschen Signora.
In schlechtem Italienisch — natürlich; denn er war ein Deutscher! — fragte der Mann Teresina Margiotta:
„Ist eine Wohnung für uns in Santa Croce?“
„Es ist kein Hotel hier, Herr.“
Der Fremde wehrte ab:
„Nicht so! Wir möchten für immer hier sein oder wenigstens für lange Zeit. Sind nicht ein paar Zimmer zu ermieten? Na, wie steht das?“ drängte er ungeduldig.
Während Teresina die Schultern zog und nicht recht wusste, welche Auskunft sie erteilen sollte, hatte Nina Zeni die Gunst der Stunde mit scharfem Blick erkannt und richtete sich auf. Nina Zeni stand ganz allein auf!
„Teresina Margiotta,“ gebot sie, „was stehst du, und warum läufst du nicht? Schöpfe frisches Wasser, Teresina, und bring es in mein Haus, damit sich die Herrschaften kühlen und davon trinken. Eil dich, Teresina Margiotta!“
Und so gebieterisch streckte die kugelrunde, faule Frau Nina ihren blossen Arm aus, und so herrisch war ihr Blick, dass Teresina Margiotta nicht einen Augenblick zögerte, alles zu tun, was die Nachbarin wünschte.
Während der Schlag ihrer roten Pantoffeln auf den Steinfliesen verklang, weil Teresina mit dem Kruge zum Brunnen lief, lud die blossarmige Frau Nina, die sich das Hemd über der Brust zusammengezogen hatte, die Fremden ein, in ihr Haus zu treten.
Sie schüttete eine Flut von Entschuldigungen über sie aus und erkannte dennoch an vier hilflosen Augen, die sich ängstlich an ihre geschäftigen Lippen hingen, dass ihre Worte fast unverstanden blieben.
Aber unerschöpflich sprang der Quell ihrer Rede — und wenn sich ihr Mund nicht verständlich machen konnte, die Beredsamkeit ihrer Hände und Arme versagte nicht.
Und so sprach Nina Zeni, während sie die Fremden auf eine zerrissene Polsterbank komplimentierte:
„Es ist sehr heiss heute, und es ist besonders heiss in Santa Croce. Aber es ist schön in Santa Croce, schön im Schatten der Berge, schön wenn die dunkelblauen Früchte im Silber der Oliven reifen, schön wenn die goldenen Limonen gepflückt werden. Allein — Fremde können in Santa Croce einzig bei Nina Zeni wohnen; denn es kommen nur selten Fremde her, weil ihnen die Wege zu steil sind; darum richten sich die Leute von Santa Croce nicht für sie ein. Aber Nina Zeni hat ein Zimmer, — in ganz Santa Croce niemand als Nina Zeni.“
Sie nannte rasch einen bescheidenen Wochenpreis; denn draussen hörte sie schon wieder den raschen, leichten Schlag der roten Pantoffeln Teresina Margiottas.