Die Unterwerfung der Frauen. John Stuart Mill
Читать онлайн книгу.worden, sie als für ihr Geschlecht unziemlich zu unterdrücken. Zu bedenken ist auch, dass keine geknechtete Klasse je mit einem Mal die vollkommene Freiheit gefordert hat. Als Simon de Montfort die Deputierten der Gemeinen zum ersten Mal ins Parlament berief –, fiel es einem von diesen auch nur im Traum ein zu verlangen, dass eine gewählte Versammlung Ministerien schaffen und abschaffen und Königen in Staatsangelegenheiten Vorschriften machen würde? Nicht dem Ehrgeizigsten unter ihnen kam dergleichen in den Sinn. [31]Während der Adel diese Ansprüche erhob, forderten die Gemeinen nichts als Schutz vor willkürlicher Besteuerung und vor groben persönlichen Übergriffen seitens der königlichen Beamten. Es ist ein politisches Naturgesetz, dass die seit langen Jahren von politischer Herrschaft Abhängigen niemals damit beginnen, sich über die Herrschaft selbst, sondern lediglich über deren bedrückende Ausübung zu beklagen. Es fehlt wahrlich nicht an Frauen, die sich über schlechte Behandlung seitens ihrer Männer beschweren. Es würden unendlich viel mehr sein, wären nicht Beschwerden die größte Provokation zur Wiederholung und Steigerung der schlechten Behandlung. Dieser Umstand ist es, an dem alle Versuche scheitern, die Machtverhältnisse beizubehalten, aber die Frauen vor deren Missbrauch zu schützen. In keinem anderen Fall – außer dem der Kinder – wird derjenige, der erwiesenermaßen Unrecht erlitten hat, unter die Gewalt dessen gestellt, der ihr das Unrecht zugefügt hat. Dementsprechend dulden Frauen oft lieber die schwersten und anhaltendsten Misshandlungen, als dass sie die zu ihrem Schutz geschaffenen Gesetze anrufen. Und wenn sie solches dann tatsächlich doch einmal tun, etwa in einem Moment unüberwindlicher Empörung oder auf Zureden der Nachbarn, sind sie später ängstlich bemüht, so viel wie möglich geheim zu halten und ihre Tyrannen von der verdienten Strafe los zu bitten.
Eine ganze Reihe gesellschaftlicher und natürlicher Ursachen machen es unwahrscheinlich, dass die Frauen in ihrer Gesamtheit gegen die Herrschaft der Männer rebellieren. Die Lage, in der sie sich befinden, unterscheidet sich insofern von der Lage anderer unterdrückter Klassen, als ihre Herren von ihnen noch etwas anderes verlangen als [32]Dienstbarkeit. Die Männer wollen von den Frauen nicht nur Gehorsam, sondern auch Zuneigung. Alle Männer, mit Ausnahme der rohesten, wollen keine gezwungene, sondern eine freiwillige Sklavin, oder besser: keine Sklavin, sondern eine Favoritin. Zu diesem Zweck bieten sie alles auf, um den weiblichen Geist zu versklaven. Die Herren aller übrigen Sklaven verlassen sich, um ihre Sklaven zum Gehorsam zu zwingen, auf Angst, entweder auf die Angst vor ihnen selbst oder auf religiöse Ängste. Die Herren der Frauen verlangen mehr als einfachen Gehorsam, und sie nutzen die ganze Macht der Erziehung, um ihren Zweck zu erreichen. Jede Frau wird von frühester Jugend an in dem Glauben erzogen, das Ideal des weiblichen Charakters sei dem des Mannes genau entgegengesetzt: keine Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, sondern Fügsamkeit und Unterwerfung unter die Kontrolle anderer. Jede einzelne Moral predigt ihnen, die Pflicht der Frau sei – und [272] die übliche Sentimentalität behauptet dies als ihre eigentliche Natur –, für andere da zu sein, sich selbst vollständig zu verleugnen und ausschließlich für ihre Gefühlsbindungen zu leben. Mit den Gefühlsbindungen sind dabei die einzigen gemeint, die man ihnen zugesteht: die zu dem Mann, mit dem sie verbunden sind, und die zu den Kindern, die eine zusätzliche und unauflösliche Bindung zwischen ihnen und ihrem Mann schaffen. Nimmt man diese drei Dinge zusammen: die natürliche Anziehung zwischen den Geschlechtern; die vollständige Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann, so dass jedes von ihr genossene Vorrecht oder Vergnügen von seinem Willen abhängt; und die Unmöglichkeit, ein Vorhaben, eine Auszeichnung oder ein gesellschaftliches Engagement anders als durch ihn zu [33]verfolgen und zum Erfolg zu bringen: Es müsste wahrlich mit Wundern zugehen, wenn nicht der Leitstern der weiblichen Erziehung und Charakterbildung die Attraktivität für Männer geworden wäre. Und nachdem sich die Männer einen so mächtigen Einfluss über das Denken der Frauen verschafft haben, nutzen sie, getrieben von Egoismus, diesen bis zum Äußersten aus, um die Frauen in Abhängigkeit zu halten, indem sie ihnen Bescheidenheit, Unterwürfigkeit und die Aufgabe des eigenen Willens zugunsten des Mannes als wesentliche Bestandteile ihrer Attraktivität für Männer darstellen. Kann man ernsthaft bezweifeln, dass jede andere Form der Knechtschaft, die abzuschütteln der Menschheit gelungen ist, ganz genauso bis auf den heutigen Tag bestehen würde, wenn man dieselben Mittel gehabt und ebenso eifrig angewendet hätte, um die Unterdrückten geistig zu beugen? Nehmen wir an, dass man es zur Lebensaufgabe eines jeden jungen Plebejers gemacht hätte, in den Augen irgendeines Patriziers persönliches Wohlgefallen zu erregen, oder eines Leibeigenen in den Augen irgendeines Grundherrn, oder man dem Plebejer und Leibeigenen als Preis, den das Leben ihnen bieten kann – und den begabtesten und ehrgeizigsten den höchsten Preis – das Zusammenleben mit ihm und seine Zuneigung vorgehalten hätte; und weiterhin, dass man sie, nachdem sie diesen Preis errungen hätten, durch eine eherne Mauer von allen Interessen, die ihren Mittelpunkt nicht in ihm haben, und von allen Gefühlen und Wünschen, die nicht von ihm geteilt oder hervorgerufen werden, ausgeschlossen hätte: Würden Plebejer und Patrizier, Leibeigene und Grundherren nicht heute noch ebenso verschieden voneinander sein, wie es Männer und Frauen sind? [34]Würden nicht alle, mit Ausnahme vereinzelter Denker, glauben, diese Verschiedenheit sei eine grundlegende und unabänderliche Gegebenheit der menschlichen Natur?
Diese Überlegungen dürften hinreichend sein zu zeigen, dass das Herkommen, wie immer universal es in diesem Fall sein mag, kein gutes Argument für die gesellschaftlichen Arrangements ist, die die Frauen den Männern gesellschaftlich und politisch unterordnet. Ich möchte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass der Verlauf der Geschichte und die Tendenz zum Fortschritt der Gesellschaft nicht nur gegen dieses System der Rechtsungleichheit sprechen, sondern entschieden dagegen sprechen, und dass, soweit die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit und die Modernisierungstendenzen der Gesellschaft Schlussfolgerungen erlauben, dieses Relikt der Vergangenheit keine Zukunft hat und unweigerlich verschwinden wird.
Denn was zeichnet die moderne Welt aus – worin liegt der wesentliche Unterschied zwischen modernen Institutionen, modernen sozialen Ideen, dem modernen Leben und dem Leben vergangener Zeiten? Dass Menschen nicht für einen bestimmten [273] Platz im Leben geboren und an die Stelle, an der sie geboren sind, unwiderruflich gefesselt sind, sondern dass sie die Freiheit haben, ihre Fähigkeiten darauf zu verwenden und jede sich ihnen darbietende Gelegenheit dafür zu nutzen, die Lebensstellung zu erlangen, die ihnen die wünschenswerteste erscheint. Die alte Gesellschaft beruhte auf ganz anderen Grundlagen. Alle Menschen waren in einer bestimmten sozialen Stellung geboren und wurden zumeist durch Gesetze darin festgehalten oder der Mittel beraubt, die ihnen zu ihrer Befreiung [35]daraus hätten dienen können. Wie ein Teil der Menschen weiß, ein anderer schwarz geboren ist, so war ein Teil geborene Sklaven, ein anderer Freie und Bürger; die einen waren geborene Patrizier, die anderen geborene Plebejer; die einen Aristokraten, die anderen Kleinbauern. Ein Sklave oder Leibeigener konnte sich niemals aus eigener Kraft zum Freien machen oder zu einem solchen werden, es sei denn durch den Willen seines Herrn. In den meisten europäischen Staaten war es erst gegen Ende des Mittelalters und infolge der wachsenden Macht der Könige möglich, dass Bürger geadelt wurden. Selbst beim Adel war der älteste Sohn der geborene einzige Erbe aller väterlichen Besitzungen, und es verging viel Zeit, bis das Recht etabliert wurde, ihn zu enterben. Von den gewerbetreibenden Klassen durften nur diejenigen, die als Mitglieder einer Gilde geboren oder von deren Mitgliedern aufgenommen waren, ihren Beruf von Rechts wegen innerhalb der lokalen Grenzen betreiben, und niemand konnte einen für wichtig gehaltenen Beruf anders ausüben als innerhalb der geltenden Gesetze, also so, wie es ihm von der Behörde vorgeschrieben wurde. Handwerker standen am Pranger, wenn der Verdacht aufkam, sie übten ihr Gewerbe nach einer neuen, verbesserten Methode aus. Im modernen Europa und besonders in den Teilen Europas, die sich am meisten an der Modernisierung beteiligt haben, herrschen inzwischen diametral entgegengesetzte Anschauungen. Gesetz und Regierung denken nicht daran, durch Vorschriften zu regeln, wer irgendein Gewerbe ausüben darf oder nicht und welche Verfahren gesetzlich oder ungesetzlich sind. Dies wird der Entscheidung der Individuen überlassen. Selbst die Gesetze, die den Handwerkern das Absolvieren [36]einer Lehrzeit vorschreiben, sind in England aufgehoben worden, da man sicher ist, dass in allen Fällen, in denen das Ausüben des Handwerks eine Lehrzeit erfordert, dies hinreichend dafür sorgt, dass eine Lehrzeit absolviert wird. Die alte Theorie war, dass dem Einzelnen so wenig Spielraum wie möglich gelassen werden sollte; dass alles, was er tun sollte, so weit wie möglich von höherer Weisheit vorgezeichnet sein sollte. Man war sich sicher, dass, überließe man ihn sich selbst, er fehlgehen