Flucht in die Finsternis. Arthur Schnitzler
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Doktor Leinbach lächelte nur.
Robert beharrte: „Du vergisst, wie sehr ich mit meinen Nerven herunter war im Frühling, bevor ihr mich auf Reisen geschickt habt.”
Leinbach zuckte die Achseln: „Mein lieber Freund, wenn einer in der glücklichen Lage ist, sich wegschicken zu lassen — so schicken wir ihn natürlich weg. Andererseits gibt es viele Leute, denen es einfach nur an Zeit mangelt, verrückt zu werden.”
„Verrückt,” wiederholte Robert bei sich, warum sagt er gleich „verrückt”? Wenn ich nun die Geschichte mit meinem Augenlid vorbrächte? Es wäre vielleicht der richtige Moment. Und vorsichtig begann er: „Ich hatte übrigens die Absicht, dich morgen in deiner Ordinationsstunde heimzusuchen.”
„Ordinationsstunde —?! Da gehören zwei dazu, mein Lieber. Da müsste ich dich vor allem als Patienten ansehen.”
„Mir fällt nämlich seit einiger Zeit auf”, sagte Robert unbeirrt, „dass — mein linker Arm beträchtlich schwächer ist als mein rechter.” Der Einfall war ihm im gleichen Augenblick gekommen. „Ja, lach nur, es ist doch so.” Er hob langsam seinen linken Arm und liess ungeschickt die Finger spielen.
„Na”, meinte Leinbach übertrieben heiter, „pack doch einmal mein Handgelenk mit deinem gelähmten linken Arm!”
Robert tat so, und Leinbach liess ein scherzhaftes „Au” hören. „Und doch”, sagte Robert, „versichere ich dir: heute früh war mir, als könnte ich den Arm überhaupt nicht rühren; ja, die ganze linke Seite war irgendwie in dieses eigentümliche Gefühl miteinbezogen. Ich verspürte auch eine sonderbare Müdigkeit der linken Gesichtshälfte, und” — er wagte sich immer weiter vor — „das linke Auge konnte ich kaum öffnen.” Zugleich, da er den Blick Leinbachs doch mit einer gewissen ärztlichen Schärfe auf sich gerichtet sah, riss er beide Augen weit auf, um sich ja nicht zu verraten.
„Unsinn”, sagte Leinbach, „eine Seite ist bekanntlich immer schwächer als die andere. Die sogenannte Symmetrie der beiden Körperhälften ist überhaupt eine Fabel, das weisst du doch. Übrigens — wo bist du nur zuletzt gewesen? Am Meer, im Süden, nicht wahr? — Das war vielleicht nicht ganz das Richtige, besonders als Abschluss. Ich an deiner Stelle würde doch, bevor ich mein Amt antrete, ein paar Tage Gebirgsluft schnappen.”
„Du glaubst —?”
„Nicht etwa, dass ich es für notwendig hielte — keine Spur. Aber wenn man’s tun kann....” Er seufzte. „Von mir aus magst du natürlich ruhig in Wien bleiben.”
Der Dichter Kahnberg trat an den Tisch, begrüsste Robert zu dessen Verwunderung wie einen sehnlichst erwarteten Freund, zog ihn mit sich an einen Nebentisch, erzählte ihm die Fortsetzung einer Herzensgeschichte, von deren Beginn Robert seiner Erinnerung nach niemals das geringste erfahren hatte, und erkundigte sich, ob ein Buch, das er an ihn vor etlichen Monaten abgesandt, richtig angelangt sei. Robert besann sich, dass ihn das Werk, ein Drama in Versen, mit einer sehr warmen Widmung von der Hand des Dichters, erreicht und dass er es auch gelesen hatte. Doch vermochte er sich des Inhalts durchaus nicht zu erinnern. Er war eben in Verlegenheit, wie er sich verspätet bedanken und was er über das Buch sagen sollte, als die Herren insgesamt aufbrachen, um den Abend in einer Bar zu beenden. Robert schloss sich gerne an, und bald sassen sie alle in einem niederen, menschenerfüllten, überhellen Raum an kleinen Tischen und lauschten dem Klavierspieler, der Opernarien, Tänze, Lieder, aufs feinste harmonisiert, mit zwanglosen Übergängen unermüdlich vortrug.
Robert besonders hörte mit einer Art von fachmännischem Vergnügen zu, da sein eigenes Talent demjenigen dieses Nachtpianisten, der tagsüber als Sparkassenbeamter sein Brot verdiente, einigermassen verwandt war. Doktor Leinbach versuchte sein persönliches Verhältnis zur Musik philosophisch klarzulegen. Er sprach dieser Kunst einen sozusagen amoralischen Charakter zu, indem er für seinen Teil unter dem Einfluss schöner Klänge sich stets geneigt fühle, sich von sämtlichen Fehlern und Sünden, begangenen und zukünftigen, ein für allemal zu absolvieren. Robert erinnerte sich, dass er dieses Lokal zuletzt in Albertens Gesellschaft besucht hatte; und er fragte sich, wo sich die einstige Geliebte jetzt wohl befinden möge. Ob der junge Amerikaner, mit dem sie abgereist war, sie wirklich geheiratet hatte? Er zweifelte daran. Der Mann konnte doch ebensogut ein Hochstapler gewesen sein und sie drüben oder schon hier in Europa im Stich gelassen haben. Wie gewissenlos war er doch gewesen, sie — nicht etwa aus Edelsinn, sondern aus verletzter Eitelkeit — aufzugeben und einem wildfremden Menschen zu überlassen oder geradezu auszuliefern.
Immer mehr Leute drängten in den kleinen Raum und zwängten sich zwischen Tischen und Stühlen durch. Eine sehr grosse, unnatürlich magere junge Dame in Begleitung von zwei Herren blieb eine Weile, mit den Blicken im Saal umherschweifend, nah von Robert stehen, und ihr Arm streifte den seinen. Da sie keinen Platz fand, wandte sie sich mit ihren Begleitern wieder zum Gehen, doch an der Tür sah sie sich lächelnd nach Robert um.
Ein frisch gefülltes Glas Champagner stand vor ihm. Er trank es in einem Zug aus — mit Lust, fast mit Begier. Der Klavierspieler phantasierte über Themen aus Wagnerschen Opern in parodistischem Walzertempo. Irgend etwas längst Vergangenes zog durch Roberts Sinne. Vor vielen Jahren, zu Beginn seiner Ehe, war er einmal während einer Tristan-Aufführung mit seiner jungen Gattin in der verdunkelten Loge sehr zärtlich gewesen. Es war ihm nun in der Erinnerung, als hätte er sie damals unendlich geliebt, und er dachte, dass vielleicht manches in seinem Leben anders gekommen wäre, wenn sie nicht so jung hätte sterben müssen. Trotz dieses wehmütigen Einfalls fühlte er sich ganz behaglich und merkte, dass er mit der Hand sanft zum Klavierspiel den Takt schlug. Er lächelte oder wollte vielmehr lächeln, denn plötzlich fühlte er seine Lippen zucken, Tränen stiegen ihm in die Augen, und er konnte sich eben noch mit Mühe zurückhalten, laut aufzuschluchzen. Er biss die Zähne zusammen, sah rings um sich, ob irgend jemand seine Schwäche bemerkt hätte, und lachte nun auf, aber so laut und schrill, dass etliche Blicke sich nach ihm wandten. Leinbach schaute ihn scharf an. „Was hast du?” fragte er. Robert schüttelte den Kopf. „Mir ist was Komisches eingefallen”, sagte er. — „Darf man wissen?” fragte Leinbach anscheinend nur aus Neugier. — „Nichts für euch, nichts für euch”, erwiderte Robert, blickte dann verstohlen umher, stellte für sich fest, dass er keine weitere Aufmerksamkeit erregte und dass nur aus einer Ecke zwei Augen, die einem jungen Mädchen angehörten, höhnisch oder vielleicht bedauernd auf ihn starrten. Er gab den Blick so hart zurück, dass das junge Mädchen wegsah und mit Beflissenheit durch den Strohhalm ihr Eisgetränk weiterschlürfte. Robert aber sagte sich, dass er nicht länger bleiben dürfe, und rief nach dem Kellner. Ich werde nicht so dumm sein und ihm zehn Gulden Trinkgeld geben, dachte er. Indes war die ganze Rechnung schon von August Langer beglichen worden. Robert bedankte sich mit humoristischer Übertriebenheit und empfahl sich. In den Teller auf dem Deckel des Pianinos legte er zu den dort schon gesammelten kleineren Münzen ein goldenes Zehnkronenstück, ärgerte sich zugleich, wagte aber nicht, es wieder zurückzunehmen. Der Pianist nickte zum Dank, und immerfort weiterspielend sagte er: „Herr Sektionsrat sind verreist gewesen? Nun wird man aber hoffentlich wieder öfter das Vergnügen haben.” Wie nett doch die Leute mit mir sind, dachte Robert. Alle: Kahnberg, Langer, der Klavierspieler; — sogar der Komiker im Theater hat mir von der Bühne her zugenickt. Nur Leinbach ist und bleibt ein unleidlicher Narr. — Er hasste ihn in diesem Augenblick.
Die Strassen waren beinah menschenleer. Von einer Turmuhr schlug es zwei. Ein Glück, dachte er, dass man noch keine Amtsstunden einzuhalten hat und sich morgen wird ausschlafen können. Er ging rasch und sicher, trällerte vor sich hin, endlich begann er sogar zu singen mit einer schönen dunklen Stimme, die ihm selber fremd vorkam. Vielleicht ist es gar nicht meine Stimme, dachte er, vielleicht bin ich es überhaupt gar nicht selber? Vielleicht träume ich? Vielleicht ist es mein letzter Traum, den ich träume, der Traum auf dem Sterbebett?
Er erinnerte sich eines Einfalls, den Leinbach vor Jahren in grösserer Gesellschaft ganz ernsthaft, ja, mit einer gewissen Wichtigkeit vorgebracht hatte. Er hatte damals einen Beweis gefunden, dass es eigentlich keinen Tod auf der Welt gebe. Es sei ja zweifellos, erklärte er, dass nicht nur für Ertrinkende, sondern dass für alle Sterbenden im letzten Augenblick das ganze Leben mit einer ungeheuren, für