Jeder verdient eine zweite Chance. Christoph Zehendner
Читать онлайн книгу.und das Verbrechen, das ihn hierhergebracht hat:
„Grundnorm 1: Wir verletzen niemanden – weder durch Worte noch durch Taten.
Grundnorm 5: Wir übernehmen Verantwortung für uns selbst, andere und das Seehaus Leonberg.
Grundnorm 6: Wir werden nichts tun, das uns selbst oder das Seehaus Leonberg in ein schlechtes Licht rückt.
Grundnorm 8: Wir nehmen keine berauschenden Substanzen ein.
Grundnorm 11: Wir akzeptieren Konfrontation und Kritik.“
Peter begreift schnell: Was das Bürgerliche Gesetzbuch für die deutsche Gesellschaft und die „Zehn Gebote“ für das Leben eines Christen sind – das sind die zwölf Grundnormen im Seehaus-Alltag.
Auf diese Vorgaben und auch das stramme Trainingsprogramm will er sich einlassen. Leidenschaftlich. Engagiert. Ohne Wenn und Aber. Er wird dankbar, dass seine Eltern ihm klare Regeln und Ordnungen vorgelebt und beigebracht haben und er sich so relativ leicht ins streng geordnete Seehaus-Leben einfindet.
Vom ersten Tag an akzeptiert Peter diese Grundnormen. Und all die konkreten Anordnungen für seinen Tagesablauf, die daraus folgen. Stunde für Stunde, Tag für Tag arbeitet Peter sich so langsam, aber stetig hoch. Vom „Neuling“ wird er bald zum „Leo-Anwärter“. Und von dieser Stufe aus weiter bis zum „Löwen“ und zum „Löwen-Plus“. Je mehr er sich bewährt oder je höher die Hierarchie-Stufe, desto mehr Freiheiten: Freiheiten wie Besuche zu Hause, Ausgang, eigenes Handy, Freizeit zum Telefonieren, Besuch im Sportverein usw.
Bewähren und damit hochdienen kann Peter sich dadurch, dass er aktiv mitmacht. Pünktlich zum Joggen und zur Arbeit erscheint. Zuverlässig ist. Freundlich. Ordentlich. Motiviert. Beherrscht.
Lauter Herausforderungen, die Peter gut bewältigt.
Dreimal wird er sogar mit dem begehrten und selten verliehenen „Sozialpreis“ geehrt. Unter anderem dafür, dass er für einen Tag ins damals neu eröffnete Seehaus in Sachsen fährt und den Jugendlichen dort aus seiner Erfahrung heraus ins Gewissen redet. Noch einmal geehrt wird Peter, weil er sich rührend um frisch geborene Lämmer im Tierkindergarten des Seehauses kümmert und sie regelmäßig füttert – zuverlässig alle zwei Stunden. Und zwar rund um die Uhr.
Peter hat eine Menge gelernt im Seehaus. Er fühlt sich gut vorbereitet auf das Leben „draußen“: „Ich freue mich, dass ich bald wieder nach Hause darf“, erzählt er mir wenige Tage vor seiner Entlassung.
Im Seehaus hat er das erste Lehrjahr als Zimmermann gut abgeschlossen. Bei einem Handwerksbetrieb im Ort, aus dem er stammt, kann er dadurch gleich im zweiten Lehrjahr einsteigen. Sich dort bewähren. Und dann auch übernommen werden. Seine Familie steht zu ihm – durch dick und dünn. Auf ihre Unterstützung kann er sich verlassen.
Trotzdem hat Peter auch ein wenig Angst vor dem Schritt nach „draußen“.
Zum einen, weil er nach seiner Verurteilung aufgelaufene hohe Schulden abtragen muss. Schulden von etlichen Tausend Euro.
Zum anderen, weil es zu einem Gespräch kommen soll zwischen den Hinterbliebenen des Opfers und ihm. Ein Gespräch, zu dem er wirklich bereit ist, vor dem er aber noch Angst hat. „Das Leben im Gefängnis war furchtbar“, erzählt Peter mir. „Aber viel schlimmer ist es für mich, diese Verantwortung tragen zu müssen, dass ich am Tod dieses Jungen schuld bin.“
Diese Schuld bedrückt Peter sehr. Er schämt sich für sein Verhalten in der folgenschweren Alkoholnacht. Er leidet darunter, das Leben eines unschuldigen jungen Menschen zerstört zu haben.
Zu Hause in seiner alten Heimat hat Peter die christliche Botschaft von Schuld und Vergebung gehört. Er ist getauft und konfirmiert worden. Der Glaube an Gott bedeutet ihm viel, schon vor seiner Zeit im Seehaus. Auch wenn er ihn nicht „offen vor sich herträgt“, wie er mir erklärt. In den schlimmsten Tagen im Gefängnis aber habe er gebetet. Das habe geholfen.
Jetzt im Seehaus besucht er regelmäßig den Gottesdienst. Dass er Christ ist, trage er nicht demonstrativ vor sich her, bekennt Peter. Aber sein Glaube bedeutet ihm viel. Theoretisch weiß er, dass Jesus ihm die schwere Schuld vergeben hat, die er so bitter bereut. Doch bisher – so scheint mir – kann Peter sich selbst nicht wirklich vergeben, was er getan hat. Und auch sein Glaube an den liebevollen, Vergebung anbietenden Jesus hilft Peter dabei nicht. Noch nicht.
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