Outsider. Jonathan Wilson
Читать онлайн книгу.bestimmt, wenn ich 25 bin. Wenn man in Russland 30 Jahre alt wird, vergessen einen alle. Es gibt große Schauspieler, die im ganzen Land berühmt waren und arm und vergessen gestorben sind.“
Als er dann 25 Jahre alt war, hatte Akinfejew noch immer Zweifel an einem Wechsel. „Fragen Sie mich, ob ich von ZSKA weg will, und ich werde Nein sagen“, sagte er. Einige glauben aber, dass er woanders hingehen muss, wenn er weiterkommen will. „Zu Beginn seiner Karriere war er der beste Nachwuchsspieler“, sagte Dassajew. „Er war sehr vielversprechend, aber bisher hat er die Erwartungen noch nicht richtig erfüllt. Ich glaube, dass er sich nicht so entwickelt, wie er es müsste, um der Beste zu werden. Ein paar Jahre lang hat er Fortschritte gemacht, und jetzt tut er das nicht mehr. Vermutlich ist es an der Zeit für ihn, ins Ausland zu wechseln. Solange er das nicht tut, wird er stagnieren.“
Akinfejew sieht das ähnlich, zumindest theoretisch. Gefühlsmäßig bleibt er jedoch an Russland gebunden. „Ich verstehe ja, dass jeder Spieler Fortschritte machen muss. Aber Fortschritte macht man nur bei besseren Mannschaften“, sagte er. „Deshalb würde ich zum Beispiel nie für Aston Villa oder Florenz hier weggehen. Ich habe gehört, dass Arsenal und Manchester United ein gewisses Interesse an mir haben. Sollte ich eines Tages herausfinden, dass das stimmt, dann würde ich ziemlich ins Grübeln kommen. Das sind echt starke Mannschaften, aber ich liebe ZSKA, und ich liebe auch Russland. Ich mag die Menschen in Russland – sie sind mein Volk. Ich mag die russische Natur, besonders die Birken. Ich glaube an Gott und gehe gerne an orthodoxen Kirchen vorbei. Davon würde ich in Europa ganz sicher nicht genug bekommen. Mich machen ja sogar schon zwei Wochen Trainingslager in Europa traurig.“
Das ist vielleicht typisch russisch. Zahllose Spieler aus Russland haben von starkem Heimweh berichtet, nachdem sie zu ausländischen Klubs gewechselt waren. Jegor Titow sagte, dass ihm regelmäßig übel wurde, wenn er im Flugzeug in Moskau auf den Start wartete. Das geht über die üblichen Probleme hinaus, mit denen sich Fußballspieler, die sich an eine neue Umgebung gewöhnen müssen, konfrontiert sehen.
Auch dass Akinfejew in einem Atemzug von der Natur und seinem orthodoxen Glauben spricht, ist letztlich typisch. Das verdeutlicht auch Thubron, als er die Vorliebe der Russen für die Eleusa-Darstellungen der Jungfrau Maria erörtert, die vor allem die mütterlichen und weniger die königinnengleichen Eigenschaften der Jungfrau Maria betonen. „Dieses Bild der Mutterschaft schlägt in der russischen Seele eine tiefe Saite an“, schrieb Thubron. „Es durchzieht den sowjetischen Nationalismus mit seiner mystischen Anrufung der rodina, des ‚Mutterlandes’, und reicht zurück, so scheint es, bis in die Zeit vor der Christianisierung, als eine große Urmutter über diese heidnischen Wälder und Ebenen herrschte. Diese Mutter besaß kein Antlitz, vielleicht war sie namenlos: ein alles gebärender Schoß. Durch die animistische Verehrung ihrer Natur – der Bäume, Seen, des Feuers, der Steine – wurden ihre Anbeter in ihre Allmacht hineingezogen.“
Akinfejew ist sich im Übrigen der Tradition großer russischer Torhüter sehr wohl bewusst. „Ich stelle mich selbst in die russische Torwarttradition, aber ich kann nicht wirklich sagen, dass man mir die Sachen beigebracht hat, die Jaschin, Chomitsch und Dassajew immer gemacht haben“, sagte er. „Ja, Jaschin war der ‚König des Strafraums’, aber heutzutage muss jeder Torwart so spielen. Der moderne Fußball ist schneller geworden, und manchmal kannst du nur noch mit deinen Füßen anstelle deiner Hände spielen, so wie es Dassajew getan hat. Ich mache das ja nicht wegen ihm persönlich. Es geht so einfach schneller. Aber ich habe Respekt vor allen großen russischen Torhütern und bin stolz darauf, Teil dieser Tradition zu sein.“
Allerdings befindet sich diese Tradition gerade im Wandel. In einer Welt, in der Individualismus – häufig in seiner ungezügelten Form – die Norm ist, spielt die Position des Torhüters als Weg der Befreiung vielleicht nicht mehr die gleiche Rolle wie früher. Fußball ist ein globaler Sport geworden. Auch wenn Akinfejew die überragenden Einzelgänger im sowjetischen Russland respektiert, stammt sein Vorbild vom anderen Ende Europas, nämlich aus Spanien, genauer: Valencia. „Santiago Cañizares war der Held meiner Kindheit“, sagte Akinfejew. „Nicht, dass ich seine Spielweise als Torhüter übernommen hätte, aber wir sind in manchen Dingen vergleichbar: Wir spielen beide lieber solide. Wenn du gelassen bleibst, ist dein Kasten sicher. Fußball ist ein einfaches Spiel, und wenn du eine Show machst, minimierst du deine Chancen, deinen Kasten sauber zu halten. Warum solltest du springen und in den Winkel hechten, wenn du einfach zwei Schritte machen und den Ball sicher fangen kannst? Als ich René Higuitas berühmten ‚Skorpion-Kick’ gesehen habe, sagte ich: ‚Der Kerl ist doch bekloppt! Der kann von Glück sagen, dass er sich nicht das Rückgrat gebrochen hat.’ Diese Art von Torwartspiel ist eindeutig nichts für mich. Nach Cañizares’ Karriereende habe ich keinen Torhütern mehr beim Spielen zugeguckt. Tschanow sagt mir immer wieder, dass sich jeder Torwart auf seinen eigenen Stil konzentrieren muss.“
Mit ungefähr 1,85 Metern ist Akinfejew nach heutigen Standards nicht sonderlich groß für einen Torhüter. Worin er aber dem aktuellen Torwartideal entspricht, ist sein hervorragendes Passspiel. Stolz zitiert er den ehemaligen russischen Nationaltrainer Guus Hiddink, der gesagt habe, dass „Aki einen guten langen Ball schlagen kann“ – und damit war nicht gemeint, dass er den Ball weit schießen kann. Vielmehr lobte er die Genauigkeit seines Passspiels. „Er hat immer gesagt, dass ich einen Angriff einleiten kann“, erzählte Akinfejew. „Bei der EM 2008 hat er die Innenverteidiger aufgefordert, den Ball zu mir zu spielen, wenn sie keinen freien Spieler sehen. Ich kann über eine Distanz von 60, 70 Metern Pässe schlagen. Ich liebe das, muss ich ehrlich sagen. Deshalb tue ich das sehr oft.“
Das Turnier markierte Akinfejews Comeback nach einer schweren Knieverletzung, die er sich im Mai 2007 zugezogen hatte. Sie hatte ihn schwer getroffen: „Ich hatte eine furchtbare Verletzung. Nach meiner Operation musste ich einen Monat lang auf dem Rücken liegen, und man sagte mir, ich solle bloß nicht auf die Seite rollen. Die ganze Reha hat sechs Monate gedauert, aber ich habe den Schmerz noch ein Jahr lang gespürt. Wenn ich ZSKA spielen sah, habe ich geweint, weil ich der Mannschaft nicht helfen konnte. Meine Eltern und Freunde haben mich sehr unterstützt, aber keiner kann einem diesen Schmerz wirklich nehmen. Das musste ich selbst tun – und ich habe es geschafft. Aber die Leute in Russland vergessen gerne mal, dass Akinfejew nach dieser Verletzung auf dasselbe fußballerische Niveau zurückkommen konnte. Hier gibt es keine große Wertschätzung. Gute Worte kommen meistens von Ausländern.“
Ob er wirklich zurück zu alter Form gefunden hat, ist umstritten. Gegen Ende des Jahres 2009 fiel auf, dass er viele Tore durch die Beine kassierte. Der frühere sowjetische Nationalspieler Ansor Kawasaschwili meinte, das sei eine Frage der Technik und hänge mit dem Tempo zusammen, mit dem Akinfejew aus seinem Tor rücke. Der reagierte, indem er seine Position veränderte und von da an immer ein wenig weiter vor dem Tor stand. So war der Weg kürzer, um die gegnerischen Angreifer zu stellen. Gleichzeitig wechselte er die Stollen, womit er dieses spezielle Problem anscheinend in den Griff bekam. Trotzdem blieben Zweifel bestehen, ob er den hohen Erwartungen, die er so früh geweckt hatte, jemals wirklich gerecht geworden war.
Und dann, im August 2011, verletzte sich Akinfejew erneut: an den gleichen Bändern im gleichen Knie. Nach einem sinnlosen Angriff von Spartaks brasilianischem Stürmer Welliton kurz vor Schluss war er mit diesem zusammengestoßen und ungünstig aufgekommen. Welliton bekam für das Foul sechs Spiele Sperre, die nach einem Einspruch auf drei Spiele verkürzt wurde. Mit 25 Jahren hatte es Akinfejew bereits auf über 50 Länderspiele gebracht, dazu kamen über 200 Einsätze für ZSKA. Alles sprach dafür, dass er neue Rekordmarken aufstellen würde. Doch nun gab es Grund zur Sorge, dass er sich von dieser Verletzung nie wieder richtig erholen würde – schließlich hatte es bereits nach der ersten Verletzung zwei Jahre gedauert, bis er wieder völlig gesund war – und deshalb nie zu den ganz großen russischen Torhüterlegenden zählen würde, auch wenn er genauso talentiert ist wie seine drei berühmten Vorgänger.
Lew Jaschins Erbe ist immer noch ein schweres.
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