Gottloser Westen?. Alexander Garth

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Gottloser Westen? - Alexander Garth


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werden. 1968 prognostizierte der Religionssoziologe Peter L. Berger: »Im 21. Jahrhundert wird man religiöse Gläubige möglicherweise nur in kleinen Gruppen finden, wo sie eng zusammengedrängt einer weltweiten säkularen Kultur widerstehen.«2

       1.3 DIE WENDE IN DER RELIGIONSSOZIOLOGIE

      Ging man noch bis fast zum Ende des vorigen Jahrhunderts selbstverständlich davon aus, dass der abnehmende gesellschaftliche Stellenwert von Religion und Kirche eine unausweichliche Entwicklung sei, so machten die globalen religiösen Prozesse diese These immer fragwürdiger und führten zu einem gründlichen Umdenken. Peter L. Berger revidierte seine Überzeugung und schrieb 1999: »Die Annahme, dass wir in einer sich säkularisierenden Welt leben, ist falsch. Die heutige Welt ist intensiv religiöser geworden, und in einigen Regionen mehr als je zuvor. Das bedeutet, dass sich eine ganze Abteilung, die von Historikern und Sozialwissenschaftlern geschrieben wurde, lose zusammengefasst unter der Bezeichnung ›Säkularisierungstheorie‹, grundsätzlich geirrt hat.«3 Ähnlich der kanadische Religionswissenschaftler Peter Beyer: »Es scheint offenkundig, dass die Vorstellung von der Säkularisierung als etwas, wo die Religion allen gesellschaftlichen Einfluss und Bedeutung verliert, auf die globale Gesellschaft als Ganzes keine Anwendung findet. In der Tat sind nur wenige Beobachter willig, die Hypothese zu verteidigen, dass wir, global gesprochen, in einer säkularisierten Gesellschaft leben.«4

      Heute setzt sich in der Sozial- und Geisteswissenschaft der Konsens durch, dass die Grundannahmen der Säkularisierungsthese nicht zu halten sind. Einige Religionssoziologen lehnen die Säkularisierungsthese grundsätzlich ab. Sie sei eurozentrisch, eindimensional, deterministisch und fortschrittsgläubig. Andere sprechen sich für eine Modifizierung der These aus. Um Säkularisierungsprozesse zu verstehen, müsse man stärker die historischen Entwicklungen berücksichtigen, die mit dafür verantwortlich sind, dass die Relevanz von Religion zunimmt oder schwindet, wie das zum Beispiel in Europa der Fall ist.

       1.4 SÄKULARISIERUNGSPROZESSE VERSTEHEN

      Was beinhaltet eigentlich der Säkularisierungsprozess? Peter L. Berger hat den Säkularisierungsbegriff scharf definiert: »Wir verstehen darunter einen Prozess, durch den Teile der Gesellschaft und Ausschnitte der Kultur aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen werden. Wenn wir von Gesellschaft und Institutionen der modernen abendländischen Geschichte sprechen, verstehen wir Säkularisierung natürlich als Rückzug der christlichen Kirchen aus Bereichen, die vorher unter ihrer Kontrolle oder ihrem Einfluss gestanden haben. Wenn wir jedoch von Kultur und Symbolen sprechen, implizieren wir, dass es sich um mehr als einen soziostrukturellen Prozess handelt. Säkularisierung wirkt sich auf die Totalität des kulturellen Lebens und der Ideation aus und lässt sich am Verschwinden religiöser Inhalte aus den Künsten, der Philosophie und Literatur sowie – und dies ist am wichtigsten – am Aufkommen der Naturwissenschaften als autonome, durch und durch säkulare Weltsicht beobachten. Mehr noch, wir implizieren, dass der Säkularisierungsprozess auch eine subjektive Seite hat. Wie eine Säkularisierung der Kultur und Gesellschaft, so gibt es auch eine Säkularisierung des Bewusstseins. Das heißt also, dass mindestens in Europa und den Vereinigten Staaten heutzutage eine ständig wachsende Zahl von Menschen lebt, die sich die Welt und ihr eigenes Dasein auch ohne religiösen Segen erklären können.«5 Man kann die Auswirkungen des Säkularisierungsprozesses in drei Punkten beschreiben:

      Erstens: Staat, Kultur, Recht, Wissenschaft und Moral entziehen sich der Dominanz und Einflussnahme religiöser Institutionen. Das geschah in Deutschland in vielen Schritten. Meilensteine dieser Entwicklung waren die Abschaffung des staatlichen Taufzwanges und die Einführung der Zivilehe nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 und vor allem die längst fällige Trennung von Thron und Altar nach dem Ersten Weltkrieg. Seitdem sind Staat und Kirche offiziell getrennt, obgleich es weiter viele Verzahnungen gibt.

      Zweitens: Religiöse Überzeugungen und Praktiken befinden sich auf dem Rückzug. In der Tat lassen eine Reihe von Faktoren den Schluss zu, dass die gesellschaftliche Gestaltungskraft der beiden großen Kirchen schwindet. Trotz aller Bemühungen »gegen den Trend zu wachsen« (so der Titel eines Impulspapiers der evangelischen Kirche) schrumpfen die Kirchen noch schneller als die Bevölkerung. Viele Menschen können mit dem überlieferten kirchlichen Glauben samt seinen Riten nichts mehr anfangen. Sie nennen sich Atheisten, Agnostiker oder einfach nur Unreligiöse und wohnen vor allem in Europa. Jedes Jahr verlassen knapp 300.000 Menschen die Evangelische Kirche in Deutschland. Bei den Katholiken sind die Zahlen etwas niedriger. Viele sehen keinen Sinn darin, eine ihnen fremde Institution mitzufinanzieren. Hinzu kommt, dass die sie umgebende Kultur eine Kirchenzugehörigkeit immer weniger stützt. Andere verlassen die Kirche, weil sie das, was sie an Spiritualität und Sinn suchen, in der Kirche nicht finden. Durch den demographischen Wandel und durch die steigende Zahl von Kirchenmitgliedern, die ihre Kinder nicht taufen lassen, ist mit einem weiteren Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder zu rechnen. In dem Reformpapier der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) »Kirche der Freiheit« von 2006 wurde prognostiziert, dass die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder bis zum Jahr 2030 auf etwa 17 Millionen zurückgehen wird. Ab etwa 2017 wird sich dieser Abwärtstrend auch auf die Kirchensteuereinnahmen auswirken, die bis 2030 um bis zu fünfzig Prozent geringer ausfallen werden.6 Das ist kein deutsches Phänomen. In vielen anderen Ländern Europas kann man einen signifikanten Rückgang der Kirchenmitgliedschaft feststellen. Freikirchen sind von diesen Erosionsprozessen nicht ausgenommen. Vor allem die traditionellen Freikirchen klagen über erhebliche Mitgliederverluste. Indes gibt es eine Reihe von neuen Freikirchen, die sich über großen Zulauf freuen. Die Säkularisierung beschränkt sich aber nicht nur auf die äußerliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution. Überzeugungen, die für den Glauben konstitutiv sind, verblassen, wie zum Beispiel der Glaube an einen persönlichen Gott oder an ein Leben nach dem Tod, so wie die Kirche es lehrt. Auch die kirchlich-rituelle Praxis schwächt sich ab. So wird in Europa der regelmäßige Gottesdienstbesuch seltener, die Menschen beten auch privat weniger und traditionelle kirchliche Sexualmoralvorstellungen finden immer schwerer Anhänger. Überhaupt gehört eine christlich begründete Grundübereinstimmung in der Gesellschaft inzwischen der Vergangenheit an. Noch vor einhundert Jahren teilten die Menschen unserer Kultur einen großen Schatz an gemeinsamen Überzeugungen wie z. B. Gott der Schöpfer, Jesus, der Inbegriff für Mitmenschlichkeit und Werte, die Zehn Gebote als anerkannte Richtschnur für das Verhalten, der barmherzige Samariter als Modell sozialen Miteinanders. Die Zeit, in der die Gesellschaft automatisch auf christlichen Werten basierte, läuft aus. In den Medien werden christliche Überzeugungen als veraltet, überholt und reformbedürftig apostrophiert. Gleichzeitig werden die Versuche vor allem von evangelischen Kirchenvertretern, das Christentum an die Entwicklungen unserer Zeit anzupassen, verhöhnt oder zumindest nicht ernst genommen. Die christliche Glaubensvermittlung in Elternhaus und Schule ist weitgehend weggebrochen. Kinder werden nicht mehr wie früher in den Glauben »hineingeboren«. Im Gegenteil, der Glaube erscheint ihnen als eine fremde Welt, in die sie erst mühsam durch Jugendleiter, Pfarrer, Konfirmandenunterricht, Jugendkirche hinein sozialisiert werden. Christliche Überzeugungen werden schon heute nur von einer Minderheit geteilt. Obgleich (noch) weit über 50 % der Menschen in Deutschland einer Kirche angehören, können sich doch nur wenige Kirchenmitglieder mit zentralen Aussagen des christlichen Glaubens identifizieren, wie sie z. B. im apostolischen Glaubensbekenntnis zusammengefasst sind. Zwar bezeichnen sich die meisten Kirchenmitglieder als religiös, »definieren aber den Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus«, wie eine Sinus-Studie 2013 unter deutschen Katholiken ergab.7 Bei Protestanten dürfte die Zahl derer, die mit der christlichen Kernbotschaft etwas anfangen können, noch geringer ausfallen. In den beiden großen Kirchen ist eine Light-Version des Glaubens der Mainstream, von der Basis bis hin zu den kirchenleitenden Amtsträgern.

      Drittens: Religion im öffentlichen Raum wird immer mehr zurückgedrängt. Die schwindende Zahl der Kirchenmitglieder reduziert den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft. Glaube ist Privatsache geworden. Spiel und Genuss, Konsum und Freizeit werden zu primären Zielen des Lebens und zum Religionsersatz. Die Kirchen hierzulande haben sich schleichend


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