Verbot, Verfolgung und Neubeginn. Helmut Reinalter
Читать онлайн книгу.Daher können Theorien in der Geschichtswissenschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn sie sich auf die Forschungspraxis beziehen. Ihre Bedeutung hängt letztlich von der methodischen Regelung der empirischen Forschung ab. Der Methodenfaktor ist ein wesentlicher Prüfstein für den Bereich der Theorie. Ob und inwieweit in der historischen Forschung Theorien verwendet werden können, hängt von den Methoden ab. Wie die neuere Theoriediskussion gezeigt hat, sind theorieförmige Elemente des historischen Denkens für die Geisteswissenschaften von großer Bedeutung. Besonders deutlich wird dies in der Abhängigkeit der Methodenentwicklung von verschiedenen Deutungsmustern der historischen Erfahrung. Erklärungen sind für die wissenschaftliche Rationalität maßgeblich, wobei nur ein Erklären mit Hilfe von Gesetzen rational oder wissenschaftlich sein kann, und auf die Geschichtswissenschaft übertragen würde dies bedeuten, dass ihre Wissenschaftlichkeit davon abhängt, ob und inwieweit sie rationale Erklärungen zu geben vermag und mit Gesetzeserkenntnissen arbeiten kann. Die Geschichtswissenschaft entspricht durchaus diesen Rationalitätskriterien, doch ist der Monopolanspruch des nomologischen Erklärungsverfahrens auf wissenschaftsspezifische Rationalität bezüglich der Geschichtswissenschaft zu einseitig. Vielmehr gibt es heute mehrere Erklärungsmodelle in der Geschichtswissenschaft, nämlich das nomologische Erklären und das Problem der historischen Gesetze, das intentionale Erklären und das Problem hermeneutischer Sinnzusammenhänge und das narrative Erklären sowie das Problem theoretischer Erzählkonstrukte.73
Unter historischen Theorien versteht man heute in der Geschichtswissenschaft Konstruktionen von Zeitverläufen, die gleichsam als Leitfäden von Geschichte bezeichnet werden können. Historische Theorien sind aber auch Fragerahmen oder Hypothesenkonstruktionen, die empirische Sachverhalte besser erschließen können. Sie sind letztlich auch „explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet werden können.“74
Abschließend müssen hier auch noch didaktische Aspekte erwähnt werden. Im Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie kann genau festgestellt werden, wo Quellenbefunde zur Stützung und inhaltlichen Füllung theoretischer Hinsichten fehlen und wo Quellen Informationen enthalten, die theoretisch nicht hinreichend erklärt werden können. Auch historische Begriffe als sprachliche Mittel historischer Aussagen fallen in den Bereich historischer Theorien. Hier geht es vor allem darum, begrifflich genau zu bezeichnen, was man das historisch Wesentliche an einem Sachverhalt nennen könnte.
Zur didaktischen Funktion und Praxis der Geschichtswissenschaft gehört auch die Methodik, worunter wir in der Geschichtswissenschaft die Regeln der historischen Forschung verstehen. Die Gesamtheit der Regeln des historischen Denkens, das Handwerkzeug des Historikers, bestimmt die Verfahren, nach denen die menschliche Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtigt wird. Die historischen Methoden garantieren die Objektivität historischer Aussagen, sofern es diese überhaupt gibt. Unter Methodik bezeichnet man in der Geschichtswissenschaft zunächst das Ensemble aller Verfahrensregeln, denen das historische Denken folgt. Im engeren Sinne sind hier aber die spezifischen Erkenntnisoperationen gemeint, die als historische Forschung bezeichnet werden. Der zweite, engere Begriff, ist praxisnäher, der erste ist stärker erkennntnis- und wissenschaftstheoretisch orientiert. Für die Forschung als Phase des historischen Erkenntnisprozesses ist das methodische Prinzip des Erfahrungsbezuges entscheidend, welches das historische Wissen in die Bewegung des Erkenntnisfortschritts bringt. Das Regelsystem der historischen Methode hängt wesentlich von der Frage ab, wie diese Bewegung des Erkenntnisfortschritts in Gang gebracht wird. Hier werden heute in der Methodendiskussion drei Schritte unterschieden:
1. Die Heuristik,
2. die Kritik und
3. die Interpretation.
Die historische Methode regelt den Forschungsprozess operativ im systematischen Zusammenhang dieser drei Schritte. Alle historischen Forschungstechniken sind in diesen methodischen Zusammenhang integriert und erfahren in ihm ihre je spezifische Funktion. Diese Einheit besitzt jedoch operativ- prozessualen Charakter und definiert Forschung als Verfahrensablauf. Der operativ-substantielle Aspekt betrifft den inhaltlichen Zugriff der Forschung auf die Erfahrung.75
9. Richtungen, Schulen und Tendenzen der Geschichtsschreibung
Für die historische Forschung sind auch die verschiedenen neuen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft wichtig geworden.76 In der neueren Geschichtswissenschaft erlangte die wirklichkeitsbegründende Kraft von Vorstellungen, mit denen frühere Gesellschaften ihre Welt für sich bedeutungsvoll machten, immer mehr an Boden, wobei einzelne Beobachtungen oft mit den Annahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie übereinstimmen. Dass die Welt des Menschen deren Konstruktion ist, scheint plausibel und hat in der Historikerzunft bereits Fuß gefasst. Es fehlen aber noch Versuche, solchen Einsichten einen stärkeren theoretischen Rahmen zu geben. Gibt es überhaupt eine konstruktivistische Geschichtsschreibung, ein Modell, das in der Lage wäre, verschiedene Methoden und Betrachtungsweisen zu integrieren? Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass in der Geschichtswissenschaft die Ebene der Beschreibung mit der eigentlichen Ebene der Realität zusammenläuft. Da funktionierende Modelle keinen Aufschluss darüber geben, wie die Welt wirklich beschaffen ist, beschreiben sie nur einen gangbaren Weg. In einer konstruktiven Historiographie wird zwar auch gesehen, dass Menschen in der Vergangenheit anders lebten, handelten und dachten als in der Gegenwart, eine objektive Kenntnis historischer Ereignisse, Zusammenhänge oder Weltbilder ist aber dem Historiker/ der Historikerin und den damals handelnden Personen unzugänglich. Darauf folgt, dass die Produkte der Arbeit des Historikers/ der Historikerin nicht davon ausgehen können, eine Abbildung von geschichtlicher Realität zu sein. Historische Forschungsergebnisse sind lediglich Konstrukte, die in keiner Repräsentationsbeziehung zu einer historischen Wirklichkeit stehen. Selbstverständlich existieren aber Qualitätsunterschiede zwischen historiographischen Konstrukten.
Wenn die Historiographie auf die Einsichten des Konstruktivismus ernsthaft eingeht, so müsste dies auch Konsequenzen auf die Konzeption des Gegenstandsbereichs der Geschichte haben. Wenn Realität auf die Ebene der Beschreibung verlagert wird, dann ergibt sich daraus, dass neben den faktischen Ereignissen auch deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen in das Blickfeld des Historikers rückt. Ideologien, Werte, Normen, Einstellungen und Gefühle werden zwar heute von der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte genauer untersucht, doch gilt der Status der „perzipierten Wirklichkeit“ gegenüber der tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit solange als sekundär und subsidiär, wie die Erkennbarkeit des objektiven historischen Geschehens nicht grundsätzlich bezweifelt wird. Aus konstruktivistischer Perspektive wird in diesem Zusammenhang vor allem betont, dass durch verzerrte Wahrnehmungen, durch Vorurteile und durch aus heutiger Sicht überholte Theorien Ansichten der Zeitgenossen als kognitive Wirklichkeit gesehen werden, auch dann, wenn neue Forschungen ein anderes Bild dieser Wirklichkeit entwerfen.77
Solche Unterschiede zwischen der Sicht der Akteure in der Geschichte und dem Geschichtsmodell, das ein Historiker heute von den gleichen geschichtlichen Ereignissen konstruiert, werden sehr verschieden bewertet. Die an mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Themen interessierte Historiker/innen entscheiden sich z.B. bewusst für die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen als historischen Forschungsgegenstand, weil sie auch der Perzeption von Wirklichkeit historische Realität zusprechen. Sozial- und Wirtschaftshistoriker/innen wiederum beurteilen verzerrte und uniformierte Ansichten von Zeitgenossen kritisch bis abschätzig. In einer konstruktivistischen Geschichtswissenschaft verstehen sich die jeweiligen Forschungsergebnisse gleichermaßen als Konstrukte des/der Historikers/in und können sinnvoll aufeinander bezogen werden. Die Perspektiven sind komplementär, weil die Konstrukte, die sich auf die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen beziehen bzw. die Modelle, die Historiker/innen von geschichtlichen