Die Novellen um Claudia. Arnold Zweig
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Arnold Zweig
Die Novellen um Claudia
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066112684
Inhaltsverzeichnis
Abschnitte:
I. | Das Postpaket | 7 |
II. | Das dreizehnte Blatt | 55 |
III. | Der Stern | 95 |
IV. | Das Album | 147 |
V. | Die keusche Nacht | 191 |
VI. | Die Passion | 223 |
VII. | Die Sonatine | 263 |
Das Postpaket
»Nicht doch, lieber Doktor,« wehrte Claudia mit tiefer und sanfter Stimme, als er sich eifrig bereit erklärte, ihr die Sorge um die Garderobe abzunehmen, »das hat James bereits getan«; und wirklich näherte sich ihnen der livrierte noch junge Diener in gelbgrauem Rock und weißen Hosen, die in Stulpstiefeln steckten, mit dem zartroten Abendmantel und den dünnen Schals seiner Herrin. Doktor Rohme stand in Überzieher und hohem Hut ein wenig hilflos in diesem von Geschwätz widerhallenden Vorraum. Noch immer fühlte er unter allen Erregungen dieser kunsterfüllten Abendstunden den Entschluß, gespannt und summend, eine tiefe Saite, der ihn heute hierher geführt hatte, zehnmal widerrufen und dennoch nicht aus dem Tatwerden gedrängt; und während Claudia sich von den knappen Bewegungen ihres Lakaien, die Geübtheit verrieten, einhüllen ließ, grübelte er, verkniffenen Mundes und mit abseits träumenden Augen, von den um ihre Überkleider Kämpfenden gestoßen und unfreundlich angesehen, über jene bittere Wallung des Nicht-mehr-Ertragens, die ihn gestern überfallen und heute hierher gestoßen hatte, wie die See eine Qualle auf den Felsen wirft. Er hatte, von der Theateranzeige veranlaßt, in Goethes Götz erst geblättert, dann mit Entsetzen gelesen, und Weislingens Schwanken zwischen dieser und jener Partei hatte ihn wie ein roher Schlag mitten ins Gesicht getroffen. Ekel und grauenvolle Verachtung gegen sich stieg ihm in den Hals dafür, daß er seit drei Wochen die Notwendigkeit eingesehen hatte, Entscheidung und Klarheit in seine Beziehungen zu diesem Mädchen zu bringen, das er mit demütiger Sehnsucht liebte, ohne den Mut zum Entschluß zu finden. Denn augenscheinlich, nach der ruhig befreundeten Art ihres Benehmens, wußte sie nicht im mindesten, wie unmöglich er für sie war. Sein Reinlichkeitsgefühl empörte sich; er kam sich beschmutzt vor, besudelte fast auch sie – so hatte er sich die Qual dieser Vorstellung verordnet, und das Mittel hatte gewirkt. Noch heute abend alles beenden, sich vor ihr noch heute entblößen, auf die Gefahr hin, für immer entlassen und ins Dunkelkalte hinausgewiesen zu werden: das war's, was nottat, und das war unlöslich beschlossen.
Als Claudias Gesicht verändert, selbst fremd aus dem weißen Seidenstoff hervorlächelte, legte sie ohne ein Wort ihren Arm in den des befreundeten Mannes und ließ sich, während in Wirklichkeit sie den Weg andeutete, scheinbar von ihm zu dem bekannten blauen Automobil der Eggeling führen, das James bereits hergewinkt hatte und das inmitten der vielen Leute, die aus den Portalen herausdrängten, wie eine Bestie toste. Er fühlte ihre Leitung mit einer scharfen Beschämung, die ihm wiederum grundlos schien, und hätte sich am liebsten verabschiedet, aber das ging ja nicht an; und als sie in dem dunklen Fahrzeug verschwand, ohne ein Wort an ihn zu richten, das ihm dazu Gelegenheit gegeben hätte, mußte er ohnehin nachsteigen. Der Chauffeur fuhr an, kaum daß er sich hatte setzen können; so fiel er beinahe in das Lederpolster zurück und argwöhnte ein Lächeln ihres beweglichen Mundes, das ihn unglücklich gemacht hätte. Aber das schöne blasse Gesicht blieb in stiller Freundlichkeit unverändert; während sie emsig ihre Gewänder ordnete, sah sie ihn mit hellen Blicken an, und er fand sich wieder in der durchdringend süßen Gefahr dieser großen schwarzen Augen voll verständigen Glanzes, unsicher und hingerissen. Einen Augenblick lang schwirrte das leichte Rauschen und Erzittern des hastenden Fahrzeugs durch die Stille ihrer Gedanken, die noch genießend an dem eben verlassenen Schauspiel hingen. Der Vorhang war umsonst gefallen; noch klirrten Rüstungen zu geschwungenen Gebärden und einer männlich herben und kriegerischen Prosa: man hatte den Götz von Berlichingen gespielt, wie um zwei großen Schauspielern Gelegenheit zu geben, ihre Kunst an Goethes Jugendwelt zu erweisen, indem die strömende Genialität des älteren den wenig zerlegten Ritter in einem reichen Zuge schuf und lebte, während der jüngere mit lauter kleinen, unendlich nervösen und verfeinerten Einzelheiten dem unbeständigen Weislingen als einem heutigen Menschen nachtastete, dessen halbe und unvollendete Gesten und Betonungen eindringlich und modern zu dem ähnlich gearteten Publikum gesprochen hatten. Das Gleichgewicht, das sich beständig zwischen ihnen herstellte, war den Leuten in prickelndem und begeisterndem Genuß in die Seelen gedrungen und sprang am Schluß mit einem Außersich von Beifall prasselnd wieder hervor, zurück zur Bühne.
Während dies schon vage Erinnern in ihm zitterte, quälte er sich unausgesetzt, ein Mittel ausfindig zu machen, einen Weg, der, ohne bei ihr Anstoß zu erregen und ganz geradezu von seiner Lage zu reden – wobei sie wohl nur mit hoch hinaufgezogenen Augenbrauen den Mund abweisend schmal gemacht hätte – ihm gestattete, seine innere Verfassung vor ihr hinzubreiten: sieh, so bin ich, nun entscheide dich … Aber das war schwer, und nichts wollte sich finden. Endlich begann Claudia ihn leichthin wie aus Schicklichkeit zu fragen: »Eine eigentümliche Aufführung, Doktor, oder?« Er glaubte zu fühlen, jedoch nicht schmerzhaft,