Ausgewählte Erzählungen. Oscar Wilde
Читать онлайн книгу.heutzutage um entfernte Verwandte – die sind schon seit Jahren aus der Mode. Jedenfalls werde ich ihr aber raten, ein schwarzes Seidenkleid bereitzuhalten. Es macht sich immer gut in der Kirche ... Nun wollen wir zu Tisch gehen. Gewiß ist alles schon aufgegessen worden, aber vielleicht finden wir doch noch etwas warme Suppe. François war sonst ein Meister in Suppen, aber er beschäftigt sich jetzt so viel mit Politik, daß gar kein Verlaß mehr auf ihn ist. Ich wünschte, General Boulanger würde endlich Ruhe geben. Sie scheinen etwas abgespannt, Herzogin?«
»Nicht im geringsten, teure Gladys«, antwortete die Herzogin und wackelte zur Türe. »Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten, und der Chiropodist, ich meine der Chiromant, ist sehr interessant. Flora, wo kann mein Schildpattfächer nur sein? Oh, vielen Dank, Sir Thomas! Und mein Spitzenschal, Flora? Oh, ich danke Ihnen, Sir Thomas, Sie sind sehr liebenswürdig.« Und die würdige Dame kam endlich die Treppe hinunter und hatte ihr Riechfläschchen bloß zweimal fallen lassen.
Die ganze Zeit über hatte Lord Arthur Savile am Kamin gestanden mit einem Gefühl des Schreckens, mit dem lähmenden Vorgefühl kommenden Unheils. Er lächelte traurig seiner Schwester zu, als sie an Lord Plymdales Arm vorüberkam, reizend anzuschauen mit ihrem roten Brokatkleid und ihren Perlen, und er hörte kaum, als Lady Windermere ihn aufforderte, mit ihr zu kommen. Er dachte an Sybil Merton, und der Gedanke, daß etwas zwischen sie beide treten könnte, verschleierte seine Augen mit Tränen.
Wer ihn ansah, hätte glauben können, die Nemesis habe den Schild der Pallas gestohlen, um ihm das Medusenhaupt vorzuhalten. Er schien in Stein verwandelt, und sein Gesicht war marmorn in seiner Melancholie. Er hatte das verfeinerte Luxusleben eines jungen Mannes von Rang und Vermögen geführt, ein Leben, wunderbar frei von häßlicher Sorge, herrlich in seiner knabenhaften Unbekümmertheit. Zum erstenmal war ihm das furchtbare Geheimnis des Schicksals zum Bewußtsein gekommen, der schreckliche Sinn des Verhängnisses.
Wie wahnsinnig und schrecklich ihm all das erschien! Konnte irgendein furchtbares sündiges Geheimnis, ein blutrotes Zeichen des Verbrechens in seiner Hand geschrieben stehen, in Hieroglyphen, die er selbst nicht zu lesen vermochte, die aber ein anderer zu entziffern verstand? War es nicht möglich, diesen drohenden Dingen zu entgehen? Waren wir denn nichts anderes als Schachfiguren, die eine unsichtbare Macht bewegt, nichts anderes als Gefäße, die ein Töpfer formt, wie es ihm beliebt, um sie mit Schmach oder Ehre zu füllen? Sein Verstand empörte sich dagegen, und doch fühlte er, daß irgendeine Tragödie über ihm hing und daß ihm plötzlich beschieden war, eine unerträgliche Last zu tragen. Wie glücklich sind doch Schauspieler! Sie haben die Wahl, ob sie in der Tragödie oder Komödie auftreten wollen, ob sie leiden oder lustig sein, lachen oder Tränen vergießen wollen. Aber im wirklichen Leben ist das so ganz anders. Die meisten Männer und Frauen sind gezwungen, Rollen zu verkörpern, für die sie gar nicht geeignet sind. Unsere Güldensterns spielen uns den Hamlet vor, und unsere Hamlets müssen scherzen wie Prinz Heinz. Die Welt ist eine Bühne, aber das Stück ist falsch besetzt.
Plötzlich trat Mr. Podgers ins Zimmer. Als er Lord Arthur erblickte, fuhr er zusammen, und sein grobes, dickes Gesicht wurde ganz grünlichgelb. Die Augen der beiden Männer begegneten sich, und einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Die Herzogin hat einen ihrer Handschuhe hier vergessen, Lord Arthur, und hat mich gebeten, ihn ihr zu bringen«, sagte endlich Mr. Podgers. »Ach, ich sehe ihn da auf dem Sofa. Guten Abend.«
»Mr. Podgers, ich muß darauf bestehen, daß Sie mir eine Frage, die ich an Sie stellen will, aufrichtig beantworten.«
»Ein anderes Mal, Lord Arthur, die Herzogin wartet. Ich muß wirklich gehen.«
»Sie werden nicht gehen. Die Herzogin hat keine Eile.«
»Man darf Damen nie warten lassen, Lord Arthur«, sagte Mr. Podgers mit seinem matten Lächeln. »Das schöne Geschlecht wird leicht ungeduldig.«
Um Lord Arthurs feingezeichnete Lippen spielte eine stolze Verachtung. Die arme Herzogin hatte für ihn in diesem Augenblick nicht die geringste Bedeutung. Er ging auf Mr. Podgers zu und hielt ihm seine Hand entgegen.
»Sagen Sie mir, was Sie hier gesehen haben«, sagte er. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Ich muß sie wissen. Ich bin kein Kind.«
Mr. Podgers Augen blinzelten hinter der goldenen Brille, und er trat unruhig von einem Fuß auf den andern, während seine Finger nervös mit einer dicken Uhrkette spielten.
»Warum glauben Sie denn, Lord Arthur, daß ich mehr in Ihrer Hand gesehen habe, als ich Ihnen gesagt habe?«
»Ich weiß es und bestehe darauf, daß Sie mir sagen, was es war. Ich werde Ihnen natürlich diesen Dienst bezahlen. Ich gebe Ihnen einen Scheck auf hundert Pfund.«
Die grünen Augen blitzten einen Augenblick auf, und dann wurden sie wieder trübe.
»Guineen?« sagte Herr Podgers endlich leise.
»Gewiß. Ich sende Ihnen morgen den Scheck. Wie heißt Ihr Klub?«
»Ich bin in keinem Klub. Das heißt, momentan nicht. Meine Adresse ist ... Aber gestatten Sie mir, Ihnen meine Karte zu geben.« Und Mr. Podgers zog aus seiner Westentasche eine goldgeränderte Visitenkarte und überreichte sie Lord Arthur mit einer tiefen Verbeugung. Auf der Karte stand:
Mr. Septimus R. Podgers
BERUFSMÄSSIGER CHIROMANT
103A WEST MOON STREET
»Meine Sprechstunden sind von zehn bis vier«, murmelte Mr. Podgers mechanisch. »Familien haben ermäßigte Preise.«
»Schnell, schnell«, rief Lord Arthur, ganz blaß im Gesicht, und hielt ihm die Hand entgegen. Mr. Podgers blickte sich unruhig um, und dann zog er die schwere Portiere vor die Türe. »Es wird einige Zeit dauern, Lord Arthur, wollen Sie sich nicht lieber setzen?«
»Rasch, rasch!« rief Lord Arthur wieder und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf das Parkett.
Mr. Podgers lächelte, zog aus seiner Brusttasche ein kleines Vergrößerungsglas und wischte es sorgfältig m Taschentuche ab.
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« sagte er.
II
Zehn Minuten später stürzte Lord Arthur Savile mit entsetzensbleichem Gesicht, mit Augen, aus denen der Schrecken starrte, aus dem Hause, brach sich Bahn durch die Menge pelzumhüllter Lakaien, die unter der großen, gestreiften Markise herumstanden und nichts zu sehen und zu hören schienen. Die Nacht war bitterkalt, und die Gaslaternen rings auf dem Platze flatterten und zuckten im scharfen Wind. Aber seine Hände waren fieberheiß, und seine Stirn brannte wie Feuer. Er ging weiter und weiter, fast schwankend wie ein Betrunkener. Ein Schutzmann sah ihm neugierig nach, als er an ihm vorübergegangen war, und ein Bettler, der aus einem Torweg herauskroch, um ihn um ein Almosen anzusprechen, schauderte zusammen, denn er sah einen Jammer, der größer war als der seine. Einmal blieb er unter einer Laterne stehen und betrachtete seine Hände. Er glaubte Blutspuren auf ihnen zu entdecken, und ein schwacher Schrei brach von seinen zitternden Lippen.
Mord – das war es, was der Chiromant da gesehen hatte. Mord! Die Nacht selbst schien es zu wissen, und der einsame Wind heulte es ihm ins Ohr. Die dunklen Ecken der Straße waren davon voll. Von den Dächern der Häuser grinste es ihn an.
Zuerst kam er zum Park, dessen dunkles Gehölz ihn festzubannen schien. Er lehnte sich müde gegen das Gitter, kühlte seine Stirn am feuchten Metall und horchte auf das zitternde Schweigen der Bäume. »Mord! Mord!« wiederholte er immer wieder, als ob die Wiederholung den Schrecken des Wortes mindern könnte. Der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihn erschauern, aber er hoffte fast, daß das Echo ihn höre und die schlafende Stadt aus ihren Träumen wecke. Er fühlte ein tolles Verlangen, einen der zufällig Vorübergehenden festzuhalten und ihm alles zu sagen.
Dann ging er durch die Oxford Street in enge, verrufene Gäßchen. Zwei Weiber mit geschminkten Gesichtern kicherten hinter ihm her. Aus einem dunklen Hof kam der Lärm von Flüchen und Schlägen, gefolgt von schrillem