Sturm über der Eifel. Katja Kleiber
Читать онлайн книгу.sie bei der Kräuterwanderung fanden, die der Naturschutzverein organisiert hatte. Jede einzelne Pflanze hatte er befühlt, zwischen den Fingern gerieben und ihren Geruch tief eingeatmet. Ein winziges Stückchen zerkaut, um sie zu schmecken. Noch nie war Ella jemandem begegnet, der mit Kräutern so respektvoll umging. Sie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Gestern hatte er angerufen und ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er wollte sie wiedersehen.
Bei dem Gedanken spürte sie wieder dieses warme Gefühl in ihrer Brust.
»Hier ist die Trense«, schreckte Marnie sie aus ihrem Tagtraum auf und zeigte ihr, wie man Joe aufzäumte. Es war eigentlich ganz einfach. Dann legte Marnie dem Pferd eine Decke über den Rücken und hievte einen Ledersattel darauf, der mit Stickereien verziert war.
Fasziniert strich Ella mit ihren Fingern darüber.
»Das ist ein Westernsattel. Er ist bequemer als der englische. Verständlich, schließlich mussten die Cowboys den ganzen Tag darin aushalten«, erklärte Marnie begeistert. Sie schien ihre Arbeit zu lieben. Dann führte sie Joe zu einer Rampe.
Ella war erleichtert. Sie hatte befürchtet, sich zu blamieren, wenn sie aufsteigen sollte. Aber durch die Rampe war sie auf einer bequemen Höhe. Sie schob ihren linken Fuß in den Steigbügel, schwang ihr rechtes Bein über Joes Rücken und ließ sich in den Sattel fallen. Geschafft! Sie saß auf einem Pferd. Der Boden unter ihr war auf einmal ganz schön weit entfernt.
Marnie hatte gleich was zu meckern: »Bitte setz dich vorsichtig in den Sattel. Verlager dein Gewicht langsam auf das Pferd!«
Dann lief Joe im Kreis über die Koppel, die der Regen der letzten Woche in eine einzige Schlammpfütze verwandelt hatte. Dem Pferd schien das nichts auszumachen. Währenddessen war Ella damit beschäftigt, sich im Sattel zu halten. Sie versuchte, Marnies Anweisungen minutiös zu folgen, und nach ein paar Minuten gelang es ihr sogar, sich zu entspannen. Die rhythmische Bewegung des Pferdes wiegte sie in Sicherheit. Nur zu schnell war ihre erste Reitstunde zu Ende.
Marnie schien Ellas Enttäuschung zu spüren. »Wir müssen leider pünktlich Schluss machen, ich muss Tobi abholen«, entschuldigte sie sich. »Hat Husten aus dem Kindergarten mitgebracht. Das Vater-Wochenende war sicher eine Katastrophe.«
Als Ella abgesessen war, kam ein junges Mädchen aus dem Stall. Marnies riesiger Hofhund folgte ihr auf den Fersen. Das Mädchen griff nach Joes Zügeln.
Ella musterte sie. Hatte sie das Mädchen schon mal gesehen? Sie achtete nicht sonderlich auf die Jugendlichen im Dorf. Honigfarbene Haare zu einem dicken Zopf zusammengefasst. Große dunkle Augen. Sie war kaum älter als zwölf. Kinderarbeit?, kam es Ella in den Sinn. Andererseits: In der Eifel fuhren Achtjährige Trecker, warum sollte nicht ein Teenager Pferde striegeln, den Stall ausmisten oder sonstige Arbeiten verrichten?
Als hätte das Mädchen ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Hallo, ich bin Corinna Thielen. Sag einfach Corinna zu mir. Ich darf hier helfen. Das ist voll cool.« Sie tänzelte vor Aufregung auf den Fußspitzen. »Erst hab ich nur Reitstunden bei Marnie genommen, aber jetzt kümmere ich mich auch um die Pferde. Sogar bei Wanderritten darf ich dabei sein.« Ihre Wangen glühten. »Neulich, da sind wir den ganzen Weg an der Ahr …«
Ellas Gedanken schweiften ab, während Corinna weiter auf sie einredete. Sie war unübersehbar in dem Alter, in dem Mädchen für Pferde schwärmten. Bald würde sie für Jungs schwärmen und Pferde Pferde sein lassen, da war sich Ella sicher.
Als von der Straße her ein lautes Hupen ertönte, zog Corinna einen Flunsch. Sie beeilte sich, Joe in seine Box zu führen.
Als Ella aufbrach, sah sie, wie das Mädchen zu einem dunklen Jeep rannte und einstieg. Elterntaxi, alles klar.
Der Ötzi
Kriminalhauptkommissarin Tanja Marx blinzelte. Hielt der Goloring sie in einer Zeitschleife gefangen? Die Hand tief in der Manteltasche vergraben, fühlte sie nach ihrem Smartphone. Die Berührung gab ihr ein vertrautes Gefühl von Gegenwart. Sie lebte weiterhin im 21. Jahrhundert, auch wenn die Leiche vor ihr aus einem anderen Zeitalter zu stammen schien.
Sie musterte den Toten: Die Haare waren zu einem Zopf am Hinterkopf gebunden, über den Schultern hing ein Fell oder eine Art Fellkragen. Der Mann trug ein Hemd aus Leinen, soweit sie das bei all dem Blut erkennen konnte. Eine Lederhose. Keine Schuhe.
Eine Leiche ohne Schuhe. Vielleicht ein Zeitgenosse vom Ötzi? Aber ganz so alt wie die Gletscherleiche konnte diese doch nicht sein, denn eine Mumie blutete nicht. Die Erde unter der Eiche, wo sie den Mann gefunden hatten, war durchtränkt mit Blut. Der Fundort schien somit der Tatort zu sein. Ein derart schwer verletzter Mann schleppte sich nicht mehr hierher. Auch konzentrierte sich der Blutfleck auf den Bereich, wo die Leiche lag, es gab keine Blutspur.
»Mit dem Leben unvereinbare Verletzungen«, hatte der Notarzt in seinem Bericht vermerkt.
Die Kollegen von den Erstkräften aus Kobern-Gondorf hatten sie schon vorgewarnt, dass es kein alltäglicher Anblick war, der sie hier erwartete.
Jeden Moment würde die Forensikerin eintreffen. Tanja mochte Renate Schade eigentlich, weil diese sehr genau und gründlich arbeitete. Trotzdem war sie froh, noch einen Moment allein zu sein, in dem sie die Leiche in Ruhe betrachten konnte.
Es war kalt an diesem Montagmorgen, dem 1. November. Tanja fröstelte. Wieso nur hatte sich der Ötzi ausgerechnet in dieser unwirtlichen Jahreszeit in ihrem Zuständigkeitsbereich umbringen lassen? Wieso bekam sie solche Fälle und nicht die der einfachen Sorte à la »Alter erschlägt seine Alte«? Oder wenigstens Fälle mit Prestige, Islamisten, Organisierte Kriminalität oder sonst was Spannendes? Fälle, die ihrer Karriere einen Schub geben könnten? Aber nein, natürlich war sie Teil der Kommission, die sich mit einer Leiche befassen musste, die aus der Zeit gefallen schien. Die noch nicht einmal Schuhe trug. Und das bei dieser Kälte.
Der ältere Polizist von den Erstkräften aus Kobern-Gondorf reichte ihr eine Plastiktüte mit einer Lederbörse. »Die haben wir bei ihm gefunden.«
Tanja lächelte schief. Wenigstens besaß ihr Ötzi ein neuzeitliches Portemonnaie. Sie hätte eher vermutet, dass er noch mit Muschelketten gezahlt hatte. Oder mit Nuggets. Die Geldbörse konnte sie gleich an die Tatortgruppe weiterreichen, die sich mit den Spuren hier vor Ort befasste.
Sie friemelte Gummihandschuhe aus ihrer Tasche, blies sie auf und streifte sie über. Vorschrift war Vorschrift, auch wenn auf dem Portemonnaie sicher keine Fingerabdrücke mehr zu finden waren, so blutverkrustet, wie das Leder war. Sie öffnete die Börse vorsichtig. Sie enthielt fünfundsiebzig Euro in Scheinen, etwas Kleingeld, einige Tankbelege. Aha, der Ötzi besaß nicht nur zeitgenössische Münzen, er fuhr auch ein neuzeitliches Gefährt.
»Haben wir das Auto gefunden?«
»Auf der anderen Seite des Golorings steht ein Volvo auf einem Feldweg, dessen Daten zu dem Fahrzeugschein passen. Älteres Modell.«
Sie nickte dem Polizisten zu. Das Auto würde ein wichtiger Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen sein. Er hatte von einem Fahrzeugschein gesprochen. Sie griff in ein Seitenfach der Geldbörse, in dem Papiere steckten, und stellte fest, dass der Tote ganz ähnliche Dokumente wie sie selbst besaß: eine Sparkassenkarte, einen Führerschein, einen Kfz-Schein und einen Personalausweis, den sie herauszog.
Der Name klang zeitgenössisch: »Leonhart Schmidt«, las sie vor, »geboren am 24. Juni 1974 in Kobern-Gondorf. Wohnhaft in Eichenbach. – Wo ist das?«, fragte sie den Kollegen. Sie konnte schließlich nicht jedes Kaff hier an der Mosel kennen.
»Weiß ich leider nicht«, sagte der Polizist knapp und schien sich gerade noch beherrschen zu können, nicht die Hacken zusammenzuschlagen. Die Präsenz der Zentralen Kriminalinspektion aus Koblenz in Form von Tanja schien ihn einzuschüchtern. Wie würde es ihm nur gehen, wenn die anderen Kollegen von der Mordkommission eintrafen?
Tanja zückte ihr Handy und googelte »Eichenbach«.
»Ortsgemeinde Antweiler, Landkreis Ahrweiler«, spuckte das Gerät in Sekundenschnelle aus.
Antweiler! Ausgerechnet.