Elfenzeit 6: Zeiterbe. Uschi Zietsch
Читать онлайн книгу.unterwegs!«
»Du bist unverbesserlich«, sagte Rian, als sie es sich draußen an einem der massiven Holztische bequem gemacht hatten.
Das Gewitter hatte sich mittlerweile verzogen, doch die Straße glänzte immer noch nass. Die Häuserwände dampften in der milder werdenden Spätnachmittagssonne und verliehen der schmalen, ordentlich gekehrten Gasse etwas Mystisches.
Niemand sonst schien sich schon wieder hinaus zu trauen. Dachte David zumindest. Doch am westlichen Ende, dort, wo die Straße an den nahen See angrenzen musste, konnte er bei genauerem Hinsehen Menschen vor einem großen Dreikantgebäude ausmachen. Doch sie waren zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.
»La Porte des Secrets – Das Tor der Geheimnisse«, wisperte eine Stimme hinter ihm. David fuhr herum und blickte erneut in das lachende Gesicht von Anne-Marie, die mit der Bestellung zurück war. »Bei diesem Graupelwetter die beste Art, sich einen schönen Abend zu machen. Wenn ihr Glück habt, gibt es noch Karten«, erklärte sie, während sie den Kaffee servierte.
»Ist das eine Show?«, fragte Rian, während sie nach ihrer Tasche griff.
Anne-Marie wiegte den Kopf. »Theater, Museum, Märchenstunde. Im Grunde von allem etwas. Aber auf jeden Fall sehenswert, wenn man sich für den Wald und seinen Zauber interessiert.«
»Was für einen Zauber hat er denn?«, hakte David skeptisch nach. Das Ganze klang ihm mittlerweile doch zu sehr nach Verkaufsanzeige. Wahrscheinlich arbeitete sie mit dem Betrieb zusammen, um ihnen Besucher zuzuschanzen.
»Man sagt, es wäre die Heimstatt von Merlin«, gab die Inhaberin beflissentlich Antwort. »Die Welt glaubt, er wäre ein Zauberer gewesen. Vielleicht der größte, der je gelebt hat. Doch in Wahrheit war er ein Druide. Ein Anhänger der Vorläufer der Ancient Order of Druids. Die wussten schon in grauer Vorzeit mehr über die Gestirne als die Wissenschaftler heute. So heißt es. Sie schöpften ihre Stärke aus Licht und Schatten. Eine Magie, die auf der Dualität der Dinge beruht, so wie die Erde selbst.«
Sie beugte sich mit ihrem Tablett ein wenig vor und flüsterte verschwörerisch. »Auch heute noch sollen Merlins Abkömmlinge zu besonderen Anlässen ihre Rituale und Zeremonien im Hain abhalten.«
»Gibt’s darüber auch einen Vortrag?«, fragte David kühl und kassierte im nächsten Moment von seiner Schwester einen Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite.
Und diesmal schien er es geschafft zu haben, Anne-Marie zu vergraulen. Ihr Blick ruhte einen Lidschlag lang auf ihm, dann richtete sie sich auf und ging hinein.
»Du bist unmöglich«, fuhr Rian ihn an. »Sie hätte uns vielleicht noch mehr über diese druidischen Vorfahren erzählen können.«
»Das ist doch alles Mumpitz und Touristenfängerei«, beharrte David. Doch sein Bauchgefühl war sich da auf einmal gar nicht mehr so sicher.
Ungewöhnlich stumm saßen sie eine Weile lang nebeneinander und ließen die Gedanken jeder für sich schweifen. Wie gern hätte David diesen Ort mit Nadja erkundet. Sie hätte die Gelegenheit ergriffen und wäre vorausgeeilt, um sich jede einzelne Ausstellung anzusehen.
Er trank von seinem Kaffee und leckte sich den Milchschaum von den Lippen. Nadja hatte schon oft mit Hilfe ihres journalistischen Gespürs die richtige Entscheidung für den folgenden Schritt getroffen, für den Weg zum nächsten Puzzlestück auf ihrer Suche und Mission. Vielleicht sollten er und Rian dieser Eingebung folgen und sich Das Tor der Geheimnisse näher ansehen. Einen Versuch war es zumindest wert.
Nachdem Anne-Marie auf einen Wink hin das Tablett mit der Rechnung auf den Tisch gestellt hatte, zog sie mit der anderen Hand einen Stapel Karten aus ihrer Tasche. Die Ränder wirken abgegriffen und speckig. »Wie wäre es zum Abschied mit einem Blick in die Zukunft, mon chère?«, fragte sie, während sie das Set mit einigen gekonnten Handgriffen auffächerte.
Davids Lippen wurden schmal. Nichts hätte er lieber getan, nichts mehr gewünscht, als vorauszusehen, was passieren würde. Doch die Antwort lag nicht in einem Kartenspiel. Er schüttelte den Kopf.
»Und Sie, Mademoiselle? Wollen Sie es riskieren?« Sie hatte erneut zur höflich-distanzierten Anrede gewechselt. Ob nun aus reinem Geschäftsgebaren oder weil David sie mit seinen schroffen Antworten ernsthaft beleidigt hatte.
Rian hob die Hand, als wollte sie nach einer Karte greifen. Dann zögerte sie. Ihr Blick wanderte zwischen David und dem Fächer hin und her. Bis sie schließlich die Entscheidung traf und zugriff.
Während die Rückseite schmucklos einfarbig, mit einer weißen Linie den Rand entlang gestaltet war, zeigte sich auf der Vorderseite die Handschrift eines wahren Künstlers.
Das Bild wirkte unglaublich zart und filigran. Eine Zusammenstellung aus wässrigen Blauschattierungen im Hintergrund, die von kräftigeren Linien überlagert waren. Gelbe, rote und braune Flächen formten die Gestalt einer Frau, die auf einem Stein saß und ihre Füße in den Strom einer Quelle tauchte. Kleine weiße Sprenkel wirkten dabei wie die Gischt des sprudelnden Wassers und ließen die Szene geradezu lebendig erscheinen. Die Frau selbst hielt ihr Gesicht durch eine Kapuze verborgen; den Kopf einem fahlen Mond zugewandt.
»Die Dame vom See«, entfuhr es Rian, während sie mit den Fingern die Konturen der Linien nachfuhr.
»Das Quellenmädchen steht für ein unmögliches Vorhaben«, sagte Anne-Marie mit seltsam überraschtem Tonfall.
Als David zu ihr hinaufblickte, sah er ihre Stirn in Falten liegen. »Kein gutes Omen also?«, hakte er nach.
»Es ist eine machtvolle, aber auch tückische Karte. Sie lockt mit einer großen Belohnung. Doch jene, die danach streben, erkennen meist zu spät, welches Opfer die ihnen gestellte Aufgabe bedeutet. Wählt euren Weg weise und mit Bedacht«, mahnte sie ernst, ja eindringlich, bevor sie erneut ihr Lächeln zeigte. »Aber vorher solltet ihr euch unbedingt die Show ansehen. Mein Neffe steuert die Lichttechnik.« Sie zwinkerte.
Etwas unschlüssig standen David und Rian schließlich wieder auf der Straße und sahen zu beiden Seiten. Es war rasch dunkel geworden. Nur die beleuchteten Fenster der angrenzenden Wohnungen spendeten ein wenig Licht. Sollten sie zurück zum Hotel gehen und etwas essen oder der wandelnden Werbebroschüre Folge leisten?
»Wir können ja mal hingehen und es uns von außen ansehen«, schlug Rian vor.
»Also schön.« Die Ablenkung würde seine Gedanken von der Düsternis fernhalten, die sich auf der kleinen, zarten Seele breitmachte.
Das Gebäude lag direkt neben einer Kirche, klein und unscheinbar klebte das Haus an dem monumentalen Seitenschiff. Und doch hatten sie etwas gemeinsam. Beide waren aus dunklen Schiefersteinen erbaut, die für diese Gegend typisch waren. Ein wenig grobschlächtig, strahlten sie trotz ihrer Schlichtheit eine gewisse Gemütlichkeit aus. Einen eigenen Charakter, im Gegensatz zu den modernen Stadtbauten.
La Porte des Secrets prangte über der weiß gestrichenen Eingangstür mit den eingesetzten Glasfenstern. Seitlich davon war das Logo an die Wand gemalt – eine symbolische Darstellung des Waldes. Einfach und kraftvoll zugleich, wie eine Rune.
Farbige Strahler beleuchteten das Haus, eingebettet in den Rhythmus von Gezwitscher und dem Sausen des Windes, wie David es bereits im Café vernommen hatte.
»Kommen Sie, treten Sie ein und lassen Sie sich von den Legenden rund um Brocéliande und seinen vielen Bewohnern verzaubern«, begrüßte sie eine Stimme. »Mein Name ist Pierre und ich werde auf dieser Tour Ihr Begleiter sein.«
Da sie nun schon da waren, kaufte David zwei Tickets und sie betraten den verschlungenen Pfad im Gebäude, der sie zu den verschiedenen Attraktionen führen würde.
Pierres Werkstätte machte den Anfang. Er erzählte ihnen, wie intensiv die Region einst von den Früchten des Waldes gelebt hatte. Von ihrem Holz, aber auch von den Tieren, die darin lebten.
»Das prachtvollste Tier war der Hirsch. Er durchschritt im Frühling, Sommer, Herbst und Winter den Wald und achtete darauf, dass alles im Gleichgewicht blieb«, erklärte die Stimme aus dem Lautsprecher, während sie die