Die Pastoralsymphonie. Андре Жид

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Die Pastoralsymphonie - Андре Жид


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Tugendgarten; selbst in den schwierigen Augenblicken, die wir bisweilen durchzumachen hatten, lag nie der geringste Anlaß vor, die Beschaffenheit ihres Herzens anzuzweifeln; aber ihre natürliche Barmherzigkeit läßt sich ungern überrumpeln. Sie hält auf Ordnung und neigt genau so wenig dazu, über ihre Pflichten hinauszugehen, als sich einer Unterlassung schuldig zu machen. Ja, ihre Barmherzigkeit selber ist sorgsam geregelt, als wäre die Liebe ein erschöpflicher Schatz. Hierin besteht unsere einzige Meinungsverschiedenheit . . .

      Ihr erster Gedanke, als sie mich an jenem Abend mit der Kleinen heimkehren sah, entfuhr ihr in dem Schrei:

      „Womit hast du dich nun wieder belastet?“

      Wie jedesmal, wenn eine Auseinandersetzung zwischen uns bevorsteht, führte sie zuerst die Kinder hinaus, die offenen Mundes, in fragender Überraschung, herumstanden. Ah, wie weit war dieser Empfang von dem entfernt, den ich mir wohl gewünscht hätte! Nur meine liebe kleine Charlotte fing mit den Händen an zu klatschen und zu tanzen, als sie begriff, daß etwas Neues, etwas Lebendiges dem Wagen entsteigen würde. Die anderen aber, von der Mutter bereits abgerichtet, dämpften Charlottens Freude und brachten es rasch so weit, daß sie ihnen nachfolgte.

      Es herrschte ein Augenblick höchster Verlegenheit. Und da weder meine Frau noch die Kinder wußten, daß sie es mit einer Blinden zu tun hatten, vermochten sie sich nicht die unendliche Sorgfalt zu erklären, mit der ich ihre Schritte lenkte. Ich wurde selber durch die seltsamen Klagetöne ganz aus der Fassung gebracht, die das gebrechliche Geschöpf hervorstieß, sobald ich seine Hand losließ, die ich während der ganzen Fahrt in der meinen gehalten hatte. Seine Schreie hatten nichts Menschliches; es war wie das wimmernde Kläffen eines kleinen Hundes. Zum erstenmal dem engen Kreis der gewohnten Sinneseindrücke entrissen, die ihre ganze Welt ausmachten, schleppte sich die Blinde mit schlotternden Knien; doch als ich ihr einen Stuhl hinrückte, ließ sie sich zur Erde gleiten, wie jemand, der sich nicht zu setzen verstünde. Da nahm ich sie bei der Hand, und sie beruhigte sich ein wenig, als sie sich in derselben Stellung niederkauern konnte, in der ich sie zuerst an der Feuerstelle der entschlafenen Alten angetroffen hatte – angelehnt an das Kamingesims. Schon im Wagen hatte sie sich vom Sitz herabgleiten lassen und war die ganze Wegstrecke über so verblieben, zu meinen Füßen zusammengekauert. Meine Frau, bei der die natürliche Regung immer die bessere ist, half mir inzwischen; ihr Verstand aber kämpft ohne Unterlaß und triumphiert nicht selten über ihr Gefühl.

      „Was beabsichtigst du mit . . . dem da zu tun?“ fuhr sie fort, nachdem die Kleine untergebracht war.

      Mich fröstelte im Herzen, als ich sie solcherart sprechen hörte, und es fiel mir schwer, eine Regung der Empörung zu unterdrücken. Doch noch ganz durchdrungen von meiner langen, friedvollen Betrachtung, hielt ich an mich und, zu ihnen allen, die von neuem im Kreise herumstanden, hingewandt, legte ich meine Hand auf die Stirn der Blinden und sagte mit so viel Feierlichkeit, als mir zu Gebote stand:

      „Ich führe das verlorene Schaf heim.“

      Amalie aber will nicht gelten lassen, daß irgend etwas Unvernünftiges oder Übervernünftiges in der Lehre des Evangeliums enthalten sei. Und wie ich sah, daß sie sich zum Widerspruch anschickte, gab ich Jakob und Sarah, denen unsere kleinen Ehezwistigkeiten nichts Neues waren und die überdies von Natur aus nicht gerade neugierig veranlagt waren (meiner Meinung nach sogar vielfach zuwenig), einen Wink, damit sie sich mit den beiden Kleinen entfernten. Dann fügte ich, da meine Frau immer noch betreten und durch die Anwesenheit des Eindringlings, wie mir schien, etwas aufgebracht war, hinzu:

      „Du kannst ruhig vor ihr sprechen, das arme Kind versteht kein Wort.“

      Da begann Amalie zu beteuern, daß sie mir gewiß nichts zu sagen habe – für gewöhnlich das Vorspiel zu den langwierigsten Auseinandersetzungen –, und daß sie sich wie immer dem zu fügen habe, was ich an unpraktischen, dem gesunden Menschenverstand und dem allgemeinen Brauch zuwiderlaufenden Neuerungen wohl erfinden mochte. Ich habe bereits dargelegt, daß noch keineswegs in mir feststand, was ich mit dem Kinde beginnen wollte. Ich hatte noch gar nicht oder doch nur ganz unbestimmt die Möglichkeit in Erwägung gezogen, sie in unser Haus zu nehmen, und Amalie war es, die mir zuerst diesen Gedanken eingab, indem sie mich fragte, ob ich denn nicht der Meinung sei, daß „schon genug Münder im Hause wären“. Darauf erklärte sie, daß ich immer vorwärts schritte, unbekümmert um den Widerstand derer, die da folgen müßten; daß sie für ihr Teil der Meinung sei, fünf Kinder genügten vollauf; daß seit Klaus’ Geburt (der gerade in diesem Augenblick, als hörte er seinen Namen nennen, in seiner Wiege zu heulen begann) das Maß voll sei, und daß sie sich am Ende ihrer Kräfte fühle.

      Bei den ersten Sätzen ihres Ausfalls lagen mir einige Worte Christi auf der Zunge, die ich aber nicht aussprechen mochte, da es mir nicht angängig scheint, meine Handlungen mit der Autorität der Heiligen Schrift zu decken. Sobald sie aber ihr Überangestrengtsein ins Gefecht führte, bemächtigte sich meiner eine gewisse Verlegenheit, denn ich muß wohl gestehen, daß ich mehr als einmal die unbedachten Folgen meines Eifers nachträglich auf den Schultern meiner Frau ruhen ließ. Diese Vorhaltungen hatten mich jedoch auf meine Pflicht hingewiesen; ich flehte also Amalie mit aller Zartheit an, doch überlegen, zu wollen, ob sie an meiner Stelle nicht ebenso gehandelt und ob sie es wohl über sich gebracht hätte, ein Wesen, augenscheinlich jeder Stütze bar, in seinem Elend zu belassen. Ich fügte hinzu, daß ich mich über den neuerlichen Zuwachs an häuslicher Bürde, den die Sorge um diesen gebrechlichen Gast notwendig mit sich brachte, keiner Täuschung hingäbe, und ich verlieh meinem Bedauern Ausdruck, ihr darin nicht öfter helfend zur Seite stehen zu können. Schließlich redete ich, so gut es ging, beschwichtigend auf sie ein, indem ich sie bat, ihren Groll doch nicht an einer Unschuldigen auszulassen, die ihn durch nichts verdient habe. Dann bedeutete ich ihr, daß Sarah künftig alt genug wäre, ihr in höherem Maße an die Hand zu gehen, und Jakob desgleichen, ihrer Pflege entraten zu können. Kurz, Gott legte mir die nötigen Worte in den Mund, um ihr die Hinnahme dessen zu erleichtern, was sie sicherlich nicht ungern auf sich genommen hätte, wenn das Ereignis ihr nur Zeit zum Nachdenken gelassen hätte und ich nicht dergestalt auf dem Überraschungswege über ihren Willen verfügt hätte.

      Ich hielt die Partie fast für gewonnen, und schon näherte sich meine liebe Amalie Gertrud mit Wohlwollen; doch plötzlich kam ihre Gereiztheit noch stärker zum Ausbruch, als sie mit der Lampe zu näherer Betrachtung hingeleuchtet hatte und die unsagbar schmutzige Verfassung des Kindes gewahr wurde.

      „Aber das ist ja eine wahre Pest!“ rief sie. „Bürste dich aus, rasch, bürste dich aus. Nein, nicht hier. Schüttle dich draußen. O mein Gott, die Kinder werden voll davon sein. Ich fürchte nichts mehr auf der Welt als Ungeziefer.“

      Unbestreitbar war die arme Kleine über und über damit behaftet, und ich konnte mich einer Regung des Ekels nicht erwehren, als ich daran dachte, daß ich sie im Wagen so lange Zeit in den Armen gehalten hatte.

      Als ich zwei Minuten später, nachdem ich mich nach Kräften gesäubert hatte, wieder die Stube betrat, fand ich meine Frau in einem Sessel zusammengesunken, den Kopf in die Hände gestützt, einem tiefen Weinkrampf ausgeliefert.

      „Es war nicht meine Absicht, deine Standhaftigkeit auf eine so harte Probe zu stellen“, sagte ich zärtlich. „Wie dem auch sei, es ist spät am Abend und nicht mehr hell genug. Ich werde wachen und das Feuer hüten, an dem die Kleine schlafen soll. Morgen werden wir ihr das Haar schneiden und sie gehörig waschen. Du sollst dich erst dann um sie kümmern, wenn du sie ohne Abscheu betrachten kannst.“ Und ich bat sie, darüber nicht mit den Kindern zu sprechen.

      Es war Zeit zum Abendessen. Mein Schützling, dem unsere alte Rosalie beim Aufwarten reichlich feindliche Blicke zuwarf, verschlang gierig den Teller Suppe, den ich ihm hinstellte. Die Mahlzeit verlief schweigend. Ich hätte wohl mein Abenteuer erzählen, mit den Kindern sprechen und sie rühren mögen, indem ich ihren Sinn öffnete für das Ungewöhnliche einer so vollkommenen Entblößung, ihr Mitleid und ihr Mitgefühl für jene erweckte, die Gott unserer Aufnahme empfohlen hatte; aber ich fürchtete, Amaliens Gereiztheit von neuem zu entfachen. Es war, als sei die Parole ausgegeben, das Ereignis zu vergessen und sich darüber hinwegzusetzen, so gewiß es auch war, daß keiner von uns an etwas anderes zu denken vermochte.

      Ich war aufs äußerste


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