Die unhaltbare Pudelmütze. Gerhard Fischer
Читать онлайн книгу.war 41 Jahre alt und arbeitslos. Er saß zu Hause in Mönchengladbach, joggte mit seiner Freundin, spielte mit seinem einjährigen Sohn und wartete darauf, dass sich noch einmal ein Verein bei ihm melden würde. Es traf sich, dass mehr als 1.000 Kilometer weiter nördlich ein Klub einen Torwart suchte. Bei Lillestrøm SK hatte sich Heinz Müller, ebenfalls ein deutscher Keeper, die Hand gebrochen. Trainer Uwe Rösler, noch ein Deutscher, und der fröhliche Manager Fjørtoft, der früher bei Eintracht Frankfurt spielte, riefen Reitmaier an, und der Veteran, der zuvor nie in Norwegen gewesen war, kam nach Lillestrøm.
Claus Reitmaier denkt gerne an die Zeit in Norwegen zurück. „Santa Claus“ nannten sie ihn dort, oder? Reitmaier lächelt. Ja, er erinnere sich auch noch sehr gut an seinen Spitznamen in Norwegen: „Ich hieß Santa Claus, weil ich die Fans immer reichlich beschenkt habe mit meinen Paraden.“ Er lächelt noch einmal, er denkt nach, offenbar läuf ein Film in seinem Kopf, dann sagt er: „Die haben sich damals immer total gefreut, wenn ich aufs Spielfeld gelaufen bin, sie haben mich gefeiert.“ Mit Santa Claus. Mit Reitmaiär, Reitmaiär.
Was Claus Reitmaier am Ende in Deutschland zum Verhängnis wurde, sein Alter, half ihm hier. „Klar, das spielte bei der Popularität eine Rolle.“ Er hatte die 41 auf dem Rücken stehen: sein Alter. Auch dazu gibt es eine schöne Geschichte. Die Vier von 41 hing etwas seitlich neben der Eins, das lag daran, dass sie ihm, als er einsprang, Heinz Müllers Trikot mit der Eins gegeben hatten – und die Vier einfach vor die Eins klebten.
Schon vor dem Match gegen Start Kristiansand hatte er gute Spiele gemacht, etwa zu Hause gegen Vålerenga Oslo, es war ein Derby, denn Lillestrøm liegt nur wenige Kilometer von Norwegens Hauptstadt entfernt. „Es ist das größte Derby in Norwegen“, sagt Reitmaier, „und vor diesem Spiel hatte Lillestrøm fünf Jahre lang nicht gegen Vålerenga gewonnen.“ Diesmal gewann Lillestrøm. Weil Reitmaier gut hielt und weil der ehemalige Lauterer Michael Mifsud kurz vor Schluss das 2:1 erzielte.
Oder das Spiel in Trondheim. Dort hatte Lillestrøm mehr als 25 Jahre lang nicht gewonnen. Kein Wunder, Rosenborg Trondheim war ein Dauer-Meister, ein Champions-League-Teilnehmer, Norwegens Vorzeigeklub. Aber Lillestrøm gewann 2:1, und Claus Reitmaier hielt einen Elfmeter. „Er schoss sehr gut“, schrieb Reitmaier später auf der Fanpage des Klubs, „aber ich war im richtigen Eck und hielt. YESSSSSS! Kurz vor Schluss schoss Arild das 2:1, und wir gewannen das Spiel nach Jahren! Was großartig war, besonders für die Fans. Jeder kam zu mir und sagte mir, was es für die Leute bedeutete! Ich war so glücklich, ein Teil davon zu sein!“
Er war jetzt ein halber Held. Zum ganzen, zum großen Helden wurde er wenig später gegen Start Kristiansand. Dabei sollte er dieses Spiel gar nicht mehr machen.
Eigentlich hatte Claus Reitmaier nur für sechs Wochen in Lillestrøm unterschrieben, als Ersatz für den verletzten Heinz Müller. Die sechs Wochen waren um. Außerdem war Müller wieder fit. Doch Manager Fjørtof sagte zu Reitmaier: Bleib bis zum Ende der Saison. Und Reitmaier blieb, weil es so gut lief, weiterhin Mitglied im Lillestrømer „Spillerstall“, wie der Kader in Norwegen heißt.
Aber vor dem Spiel gegen Kristianstad ging es erst einmal in den Urlaub. Auf der Fanpage von Lillestrøm schrieb er: „Weil ich meine Familie so schnell verlassen hatte (als er spontan für Müller einsprang, Anm. d. Autors), erlaubte mir Uwe (Rösler), zwei Wochen Urlaub zu machen. Die Mannschaft bekam nur eine Woche, und sie trainierte die ganze Woche vor dem Spiel gegen Start. Ich kam erst am Freitag vor dem Spiel aus Spanien zurück, flog am Samstag nach Norwegen und – sehr gut für mich – wir spielten erst am Montag, so dass ich zweimal mit der Mannschaft trainieren konnte.“
Aber würde er gegen Start Kristianstad auch spielen?
Heinz Müller war wieder gesund, der gute Müller, der heute in der Bundesliga für Mainz 05 spielt. „Bis zum Spieltag wusste man nicht, wer spielt“, erinnert sich Reitmaier. „Heinz rechnete natürlich damit, dass er zurückkehrt.“ Schließlich war er die Nummer eins, bevor Reitmaier kam, schließlich war Reitmaier schon 41, ein Fußball-Opa also, und schließlich hatte Reitmaier zwei Wochen Urlaub gemacht. Es kam anders. „Wir hatten erst Mittagsruhe“, erzählt Claus Reitmaier, „danach war im Hotel eine Besprechung, und da sagte Trainer Rösler, dass ich spiele. Bei der zweiten Besprechung im Stadion war Heinz dann nicht mehr da.“ Das hatte sich schnell herumgesprochen, Journalisten erfuhren es, und schon am Nachmittag stand auf den Online-Seiten der Zeitungen Dagbladet oder Atf enposten: „Skandal! Müller haut ab, weil er nicht spielt!“
Claus Reitmaier im Juli 2005.
Foto: imago
Claus Reitmaier weiß nicht, was damals wirklich geschah. „Heinz hat gesagt, er habe die Abfahrt zum Stadion verpasst.“ Tatsächlich kam der Ersatztorwart später nach, er saß dann auch auf der Bank – und sah den Tigersprung seines Konkurrenten.
Nach dem Spiel gegen Start Kristiansand saß Reitmaier entspannt in seinem Hotel in Lillestrøm, er trank eine Fanta und aß einen Apfel. Er genoss das Lob, und er sagte, dass es gerade diese Spiele seien, wegen denen er mit 41 Jahren, wenn andere schon Brillen mit Gleitsichtgläsern tragen, immer noch nicht aufhören will: Spiele, die er für seinen Verein entscheiden kann. In denen er zeigen kann, dass er schneller reagiert als andere Torhüter.
Manager Fjørtoft sagte, Reitmaier könne selbst entscheiden, wann er gehe. „Er kann so lange bleiben, wie er will.“ Er ging dann im November 2005, nach einem Pokalfinale gegen Molde FK. Reitmaier hatte noch nie einen Titel gewonnen, nun konnte es so weit sein, endlich. Mit 41.
Claus Reitmaier hat seine Gefühle auf der Fanpage von Lillestrøm SK niedergeschrieben: „Beim Aufwärmen war ich in einer so großartigen Form. Kjell (der ihn warm schoss, Anm. d. Autors) konnte kein einziges Tor gegen mich erzielen, ich war wirklich großartig und ich dachte: Gut, das brauche ich für mein wirklich letztes Spiel. Ich wusste, dass ich keinen anderen Vertrag mehr unterschreiben würde, und dies würde das Ende sein, mit einem Pokal in meinen Händen! Ich war so sicher, dass wir gewinnen würden! In meinem letzten Spiel mein erster Titel!“
Claus Reitmaier irrte sich. „Sie waren viel, viel besser“, schrieb er. „Und das Schlimmste war, ich konnte keine Rettungstat für die Mannschaft machen. Das 1:0 war eine Eins-gegen-eins-Situation, und beim 2:0 nach einer Ecke stand kein Mitspieler am kurzen Pfosten und ich sah nur ihren Stürmer. Ich wusste, dass ich den Ball nicht vor ihm bekommen konnte, aber ich versuchte, nahe an ihn heranzuspringen, um den Ball zu blocken, aber es gelang nicht und er traf. Irgendwie schossen wir kurz vor Schluss zwei Tore und ich war so sicher, dass wir das Spiel vor der Verlängerung gewinnen würden. Aber sie erzielten zwei schnelle Tore und mein Traum war vorbei, was für ein schlechter Tag. Und das war die Krönung meiner Karriere: Ich hatte nie Glück! Deshalb gewann ich nie einen Titel … Es tat mir so leid für uns und für die Fans, aber am Ende will ich jedem einzelnen Fan in Norwegen danken, dass sie mir so einen guten Abschluss meiner Karriere beschert haben.“
Doch er kam noch einmal zurück, im Juni 2006.
Reitmaier war nun 42 Jahre alt, ein Engagement bei Mainz 05 war daran gescheitert, dass er während der laufenden Saison keine Spielgenehmigung erhalten hatte. Lillestrøm hatte damals, im Juni 2006, wieder ein paar Verletzte und nur einen gesunden Keeper, sie brauchten einen, der sich zur Absicherung auf die Bank setzte. Also half Reitmaier noch einmal aus. Er hatte ein halbes Jahr nicht trainiert, er hatte nur Waldläufe gemacht mit seiner damaligen Freundin, und Trainer Rösler sagte: Lass es langsam angehen. „Aber ich habe mich sofort reingehauen“, erzählt Reitmaier, „ich wurde nicht müder vom Trainieren, sondern frischer und schneller.“ Würde er vielleicht doch spielen? Nicht nur auf der Bank sitzen?
Als die Nachricht nach Lillestrøm drang, dass Santa Claus noch einmal zurückkehren würde, waren die Fanforen voll mit Einträgen – und der Forderung, er solle wieder die Nummer eins sein und Spiele retten. Wie damals gegen Kristiansand. Und wenn nicht: Einen tollen Empfang wollten sie ihm bereiten, egal, ob er spielte oder nicht. Sie wollten Lieder einstudieren, ein paar Titel hatten sie schon, etwa: „Santa Claus kommt in die Stadt“ oder: „Seht, dort tanzt der Großvater“. Sie hatten ihn schon bei seiner ersten Zeit