Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher. Kurt Tucholsky

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Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher - Kurt  Tucholsky


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–?

      »Haben Sie schwimmen gelernt, damals, als Sie lebten?«, fragte ich ihn. Wir ruderten durch den endlosen Raum, in farblosem Licht, es hatte eigentlich keinen Sinn, sich zu bewegen, weil jeder Maßstab fehlte, wohin die Fahrt ging. Planeten waren nicht zu sehen – sie rollten fern dahin.

      »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht schwimmen. Ich hatte einen Bruch. Mein Leib hatte einen Bruch.«

      »Ich habe es auch nicht gelernt«, sagte ich. »Ich wollte es immer lernen – ich habe drei –, viermal angefangen –; aber dann ist es immer nichts geworden. Nein, Schwimmen nicht. Englisch auch nicht – damit war es ganz dasselbe. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich einmal vorgenommen hatten? Ich auch nicht. Und dann, an stillen Abenden, wenn man einmal aufatmen konnte und das ganze Brimborium des täglichen Klapperwerks verrauscht war, dann kamen die nachdenklichen Stunden und die guten Vorsätze. Kannten Sie das –?«

      »Wie oft!«, sagte er. »Wie oft!«

      »Ja, ich auch …«, sagte ich, »Man nahm sich so vieles vor an solchen Abenden. Da lag denn klar zutage, dass man sich eigentlich, im Grunde genommen, mit einem Haufen Unfug abgab, der keinem Menschen etwas nützte, und sich selbst nützte man damit am allerwenigsten. Diese kindischen Einladungen! Diese vollkommen nutzlosen Zusammenkünfte, auf denen zum hundertsten Male wiedergekäut wurde, was man ja schon wusste, diese ewigen Predigten vor bereits Überzeugten … Das sinnlose Gehaste in der Stadt mit den lächerlichen Besorgungen, die keinem andern Zweck dienten, als dass man am nächsten Tage wieder neue machen konnte … Wie viel Plackerei an jedem einzelnen Ding hing, wie viel Arbeit, wie viel Qual … Der Zweck der Sachen war vollständig vergessen, sie hatten sich selbständig gemacht und beherrschten uns … Und wenn es dann einmal ausnahmsweise ganz still um uns wurde, ganz still, dass man die Stille in den Ohren sausen hörte: dann schwor man sich, ein neues Leben anzufangen.«

      »Man glaubt sogar daran«, sagte er wehmütig.

      »Und wie man es glaubt!«, fuhr ich eifrig fort. »Man geht ins Bett, ganz voll von dem schönen Vorsatz, nun aber wirklich mit diesem ganzen Unfug aufzuräumen und sich zu leben – sich ganz allein. Und zu lernen. Alles zu lernen, was man versäumt hat, nachzuholen, die alte Faulheit und Willensschwäche zu überwinden. Englisch und Schwimmen und das Ganze … Morgens klingelt dann der Rechtsanwalt an, Tante Jenny und der Geschäftsführer des Vereins, und dann hat es einen wieder. Dann ist es aus.«

      »Haben Sie das Leben geführt, das Sie führen wollten?«, fragte er und wartete die Antwort nicht ab. »Natürlich nicht. Sie haben das Leben geführt, das man von Ihnen verlangt hat – stillschweigend, durch Übereinkunft. Sie hätten alle Welt vor den Kopf gestoßen, wenn Sie es nicht getan hätten, Freunde verloren, sich isoliert, als lächerlicher Einsiedler dagestanden. ›Er kapselt sich ein‹, hätte es geheißen. Ein Schimpfwort. Nun, das ist vorbei. Und wenn Sie jetzt zur Welt kämen: wie würden Sie es machen?« Er hielt mit seinen Schwimmbewegungen inne und sah mich gespannt an.

      »Genau noch einmal so«, sagte ich. »Genau so.«

      »Er ist ein Pedant, ein ganz lächerlicher Pedant!«, sagte er.

      »Weißt du, wie viel Sternlein stehen …?«, sagte ich. »Gott der Herr hat sie gezählet … «

      »Er hat alles gezählet!«, schimpfte er. »Gezählet – das feierliche e, das schon Liliencron nicht leiden konnte, genau so lächerlich wie dieser ganze alte Mann. Alles hat Er gezählet … Haben Sie einmal in unser Lebensbuch hineingesehen –?«

      »Es war die größte Überraschung, die ich jemals erlebt – nein, die ich jemals gehabt habe«, sagte ich. »Das ist denn doch die Höhe.«

      »Nicht wahr? Aufzuschreiben, wie oft man jede einzelne Handlung begangen hat; es ist ja – geisteskrank ist das, das ist ja … das übersteigt denn doch alles an Greisenhaftigkeit, was je …«

      »Sie lästern«, sagte ich. »Sie müssen Ihn nicht lästern, dann kann dieses Buch nicht erscheinen. Gott ist groß.«

      »Gott ist …«

      »Nicht, nicht. Natürlich ist es lächerlich. Denken Sie sich: ich habe neulich einmal einen ganzen Nachmittag auf der Bibliothek verbracht und meinen Band durchgeblättert. Er ist sehr exakt geführt, das muss man schon sagen. Manches hätte ich nicht für möglich gehalten – summiert sieht es doch anders aus als damals, als man es tat.

      Schlüssel gesucht: 393-mal. Zigaretten geraucht: 11 876. Zigarren: 1078. Geflucht: 454-mal. (Bei uns ist erlaubt, zu fluchen – daher kann ich es nicht so gut. Ich bin kein Engländer.) An Bettler gegeben: 205-mal. Nicht viel. Nugat gegessen – ist ein Mensch je auf den Gedanken gekommen, derartiges aufzuschreiben …! Nugat: 3-mal. Ich habe keine Ahnung, was Nugat ist. Die Handschrift des Buchhalters ist aber so ordentlich, dass es schon stimmen wird. Übrigens: die letzten tausend Seiten sind mit einer Buchhaltungsmaschine geschrieben. Man modernisiert sich.«

      »Er zählt alles«, grollte er. »Er zählt Verrichtungen, die ein anständiger Mensch …«

      »… non sunt turpia«, sagte ich. »Ich habe demnach, sah ich an jenem Nachmittag, recht mäßig gelebt, in Baccho et in Venere … recht mäßig. Ich mag Ihnen die Zahl nicht nennen – aber es grenzt schon an Heiligkeit. Jetzt tut es mir eigentlich leid … Das merkwürdigste ist –«

      »Was?«, fragte er.

      »Das merkwürdigste ist«, sagte ich, »zu denken, dass man dies oder jenes zum letzten Mal in seinem Leben getan hat. Einmal muss es doch das letzte Mal gewesen sein. Am vierzehnten Februar eines Jahres hat man zum letzten Mal ein Automobil bestiegen … Und man ahnt das natürlich nicht. Finales gibt es ja doch nur in den Opern. Man steigt ganz gemütlich in ein Automobil, fährt, steigt aus – und weiß nicht, dass es das letzte Mal gewesen sein soll. Denn dann kam vielleicht die Krankheit, die lange Bettlägerigkeit … nie wieder ein Automobil. Zum letzten Mal in seinem Leben Sauerkraut gegessen. Zum letzten Mal: telefoniert. Zum letzten Mal: geliebt. Zum letzten Mal: Goethe gelesen. Vielleicht lange Jahre vor dem Tode. Und man weiß es nicht.«

      »Aber es ist gut, dass man es nicht weiß«, sagte er; »wie?«

      »Vielleicht«, sagte ich. »Man sollte aber bei jeder Verrichtung denken: Tu sie gut. Gib dich ihr ganz hin. Vielleicht ist es das letzte Mal.«

      »Aber Er ist doch ein gottverdammter Pedant …!«, fuhr er auf.

      »Nennen Sie nicht Seinen Namen!«, sagte ich. »Er ist ein göttlicher Pedant.«

      »Warum haben Sie gelacht –?«, fragte ich ihn.

      Er hatte dagesessen, seine Hand hatte mit den verrosteten Knöpfen einer nicht mehr benutzten Blitzkammer gespielt – und plötzlich hatte er gelacht. Es war ein recht eigentümliches Lachen gewesen, so ein Schluchzer, Station auf der Reise zwischen Lachen und Weinen … »Warum haben Sie gelacht –?«, fragte ich ihn.

      »Ich habe gelacht«, sagte er, »weil ich an da unten denken musste. An etwas ganz Bestimmtes; es ist sehr dumm. Wissen Sie, heute ist mein Todestag – nein, gratulieren Sie mir nicht … nicht der Rede wert. Zum fünfzigsten, bester Herr, zum fünfzigsten … Und heute vor acht Jahren – wissen Sie, warum Lebende keine Angst vor den Toten haben, die gerade gestorben sind?«

      »Ich kann es mir denken«, sagte ich. »Weil – weil wir ja die erste Zeit gebunden sind, noch nicht hier oben … nun, Sie kennen das. Es ist, als ob sie es ahnten.«

      »Ganz richtig!«, sagte er und ließ die Hand über die Klaviatur spielen; hätte das Werk funktioniert, so wären die Erde, der Mond und einige andere Etablissements in Rauch aufgegangen. »Ja, das ist so. Wir sind nicht sofort disponibel


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