Der Librettist. Niklas  Rådström

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Der Librettist - Niklas  Rådström


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gab es noch Hügel, Lärchenwälder, mit Kiefern bewachsene Felsen und lauschige Täler mit Laubwäldern, rauschenden Bächen und duftenden Wiesen. In steilen, kurvigen Straßen und namenlosen Seitengassen, die sich kreuz und quer durch die Landschaft zogen, wohnten Menschen, die eigensinniger und ungehobelter waren als Barbaren aus der tiefsten Wildnis, rastloser als Quecksilber und lebenshungriger als ein Epikureer. Sie waren alles, was Philadelphias wohlgeordnete Quäker-Bevölkerung nicht war und auch nicht sein wollte. In New York bezeichnete sich jeder Einwohner als Geschäftsmann, jede Straßenecke war ein Handelsplatz und das wichtigste Werkzeug aller Mitspieler war die Erfindungsgabe, der eigene Glanz.

      Dass wir New York für unseren zunächst glücklichen und dann frustrierenden Aufenthalt in Sunbury verließen, hing mit ebendieser Habsucht zusammen, die bei gewissenlosen Seelen im tiefsten Unterholz des Geschäftslebens Nahrung findet. Und im Grunde nicht nur dort, sondern überall, wo Geld als höchster Wert gilt. Der Mensch hat sich aufgeschwungen und feilscht um seinen Platz als Herr über Gottes Schöpfung. Vielleicht bin ich nur deshalb als Geschäftsmann gescheitert, weil ich das Geld nicht an erster Stelle sehe. Nach meiner Ankunft in Amerika war ich sowohl Feinkosthändler als auch Lehrer. Ich unterrichtete, wie gesagt, die Sprache und Literatur meines Heimatlandes. Mehrere Schüler wohnten bei uns im Pensionat, für das meine geliebte Nancy unermüdlichen Einsatz leistete. Die Söhne und Töchter der besten Familien gingen dort ein und aus, um sich die Bildung anzueignen, die ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung entsprach – egal, ob sie in diese hineingeboren waren oder sie aus eigener Kraft erlangen wollten. Für sie wurde der Rhythmus in Petrarcas Sonetten ebenso selbstverständlich wie das Rauschen der Wellen auf dem Hudson River. Sie kannten die Gestalten aus Dantes Unterweltsgesängen so gut, als wohnten sie nebenan am Washington Square, und Boccacios Geschichten erweckten in ihnen die gleiche Neugier wie die neuesten Gerüchte aus Manhattans Oberklasse. Früher hätte ich nie geglaubt, dass ich einmal einen Laden besitzen würde. Dieselben Hände, die Libretti für die erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart geschrieben hatten, wogen nun ein Pfund Tee ab, maßen einen halben Fuß Tabakrolle für einen Schuhflicker oder schenkten einem Kutscher seinen Morgenschnaps ein. Aber diese Verrichtungen machten mir Freude. Vom Drama zum Schnaps, was für eine Karriere! Ich freute mich über jedes neue Gesicht. Die Neue Welt war wie ein Konzertsaal, in dem Sprachen und Dialekte aus aller Welt als vielstimmige Musik erklangen. Wieder einmal hatte mich das Leben an einen neuen Strand gespült, als ich dachte, ich müsse ertrinken.

      Aber wie so oft trübten meine Gutgläubigkeit und meine Neugier mein Urteilsvermögen. Überzeugt von der Ehrenhaftigkeit meiner Mitmenschen nahm ich anstelle von Geld Waren an, deren Wert angeblich der Summe entsprach, die meine Kunden mir schuldeten. Doch die Pferde erwiesen sich als lahm, die Achse der Kutsche war gebrochen, die Möbel hatten lose Fugen, die Butter war ranzig, die Schuhe abgelaufen, die Eier faul, der Cidre verwässert, der Besen ausgefranst, die Rüben verschimmelt und die Kartoffeln ungenießbar. Die Schnäpse, die ich in meinem Laden ausschenkte, hatte ich selbst gebrannt. Mein reiches Leben hat mir nicht nur Erfahrung geschenkt, sondern auch einen ausgeprägten Geschmack für die Freuden des Lebens. Da ich im Grunde ein praktisch veranlagter Mensch war, begann ich starke Getränke für meine neuen Landsleute zu produzieren. Als Gehilfen hatte ich einen jungen Mann angeheuert, der zwar eine gute Hand bei der Herstellung wohlschmeckender Destillate hatte, aber wenig Sinn für deren Wirkung. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass es der Schnaps war, der ihn jedes Ehrgefühl vergessen ließ, sodass er im Lauf weniger Monate über tausend Dollar meines Geldes unterschlug. Er gab mir drei wertlose Schuldscheine, bevor er nach Jamaica verschwand, um dort mit einem großen Teil meiner Ladenkasse als Startkapital sein Glück zu versuchen. Ein Ire aus New Jersey wollte mich für eine erheblich geringere Schuld, die durch ein verrutschtes Komma entstanden war, ins Gefängnis werfen lassen. Da brach das Gelbfieber in der Stadt aus, und um meine Familie zu schützen, kaufte ich ein bezauberndes Holzhaus in Elizabethtown, wo einige Verwandte meiner Frau wohnten. Trotz aller Schwierigkeiten leuchtet diese Zeit hell in meiner Erinnerung, weil dort unser fünftes Kind, Charles Grahl, das Licht der Welt erblickte. Mein geliebter kleiner Carlo, geboren und aufgewachsen auf dem neuen Kontinent, er war seinem Vater so lieb wie das Leben selbst, und seine Mutter bedachte ihn täglich mit vielen Küssen.

      Von diesem Idyll aus versuchte ich, mein Geschäft durch gelegentliche Besuche in der Stadt aufrecht zu erhalten. Muss ich noch sagen, dass ich kein Glück mit meinen Mitarbeitern hatte, und dass mein Geldbeutel aufgrund weiterer Schicksalsschläge oder unglücklicher Zufälle bald leer war? Während ich nachts wach lag und über die Schwierigkeiten nachgrübelte, in die uns meine Gutgläubigkeit manövriert hatte, amüsierten sich die Verwandten meiner Frau über mein Unglück. Nun gut, es war nicht das erste Mal, und – wie der Leser inzwischen weiß – auch nicht das letzte Mal, dass ich selbst an meinem Schicksal schuld war, und dafür verlange und verdiene ich kein Mitleid. Wie oft haben die Überraschungen, die das Leben bereithält, mich gezwungen, Hals über Kopf einen neuen Kurs einzuschlagen. Wie ein Schiffskapitän, der in einem plötzlichen Wetterumschwung das Ruder herumreißen muss. Das Segel knattert laut und bläht sich schließlich neu in Richtung Bug, die Sterne am Nachthimmel drehen sich und formen neue Konstellationen, während das Schiff einen neuen Kurs einschlägt.

      Als ich aus meiner Quarantäne nach New York zurückkehrte, war ich so gut wie pleite. Meine Pläne, die jungen Amerikaner in der Sprache und Kultur der Alten Welt zu unterrichten, trafen auf breite Ablehnung. Man behauptete, es gebe in dieser expandierenden Stadt keine wissensdurstigen Jugendlichen, die die lateinische Kultur von einem älteren Herren aus Italien erlernen wollten, wie charmant dieser auch sein mochte. Vielleicht gebe es überhaupt keine solchen Schüler diesseits des Atlantiks. Und in der Tat, wenn ich mich umschaute, konnte ich nirgendwo Anzeichen eines solchen Interesses entdecken. In den wenigen Buchläden waren Bücher in meiner Muttersprache ein so seltener Anblick wie Rosen in Sibirien. Als ich eines Wintermorgens den größten Buchladen der Stadt besuchte, Riley’s am Broadway, hatten sie nur eine Hand voll Bücher auf Italienisch, und der Inhaber teilte mir mit, dass kein Mensch danach verlangte. Als ich ihm klarzumachen versuchte, dass dieser Kontinent bereit war, große Gruppen freiheitsliebender Menschen von den Küsten des Mittelmeeres aufzunehmen, gesellte sich ein junger Mann zu uns. Er hatte kurz zuvor das Geschäft betreten, den Schnee von seinem eleganten Mantel mit Pelzkragen geklopft und sich am Ofen gewärmt. Der liebenswürdige Mann sagte mit sanfter Stimme, dass er sich darauf freue, wie die Literatur der Alten Welt mit all ihren Sprachen und Traditionen in einer neuen Ausdrucksweise vereint werde, geprägt vom Freiheitsideal der jungen Republik.

      »Vielleicht kann gerade hier die Alte Welt in neuer Gestalt auferstehen«, sagte er hoffnungsvoll, »und dann umgekehrt der Alten Welt neues Leben einhauchen.« Wir unterhielten uns lange miteinander – ich, der nun seit mehreren Jahren verstorbene Herr Riley, und mein neuer Bekannter, Clement Clarke Moore – und schließlich fragte ich ihn, ob er mir erklären könne, warum die italienische Literatur in einem so aufgeklärten Land wie Amerika derart stiefmütterlich behandelt wurde. Der junge Mann erwiderte, dass sich die italienische Literatur der Gegenwart trotz allem nicht mit jener der lateinischen Antike messen könne. Sie sei die Alleinherrscherin und ihre einzige ernsthafte Rivalin die griechische Antike. In den letzten sechshundert Jahren habe es höchstens fünf oder sechs italienische Dichter gegeben, behauptete er, die dem Vergleich mit den antiken Vorbildern standhielten. Mit einem sardonischen Lächeln bat ich ihn, die Namen zu nennen, und er zählte sie an den Fingern ab: »Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariosto, Tasso ...« Er hielt inne, den kleinen Finger der linken Hand zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten.

      »Ich kann mich für mein Leben nicht an den sechsten Namen erinnern«, sagte er.

      Da umschloss ich seine Hände wie für ein gemeinsames Gebet und sagte:

      »Halten Sie Ihren kleinen Finger ruhig einen Monat lang fest, während ich Ihnen alle großen Männer aufzähle, die die italienische Geschichte in den letzten sechshundert Jahren hervorgebracht hat.«

      »Aber wir kennen sie nicht«, wandte der junge Mann ein, während ich weiter seine Hände hielt.

      »Das sehe ich«, sagte ich. »Aber glauben Sie nicht, dass ein Lehrer der italienischen Sprache und Literatur diesen Mangel beheben könnte?« Davon sei er überzeugt, unterstützte mich der Buchhändler, und ich fügte rasch hinzu: »Vielleicht fällt mir ja die Rolle des glücklichen Italieners


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