Engadiner Abgründe. Gian Maria Calonder

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Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder


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dem Haus, eine Stunde später stehe ich auf dem Gletscher.«

      »Was haben Sie damals gewonnen?«, wollte Capaul wissen.

      Rudi stöhnte und raufte übertrieben das silbergraue, volle Haar – er schien ein Scherzbold zu sein. »Jetzt fühle ich mich richtig alt. Es gab Jahre, da konnte ich nicht auf die Straße, ohne um ein Autogramm angebettelt zu werden. Nein, ernsthaft, der Höhepunkt meiner Karriere war Olympia-Silber. Deshalb wollte ich jetzt die Spiele auch unbedingt zu uns holen. Wie die Abstimmung ausging, wissen Sie ja wohl. Passé, ich nehme es sportlich.«

      Er gab Capaul seine Visitenkarte, im selben Moment kam sein Onkel vom Pissoir. »Gelöscht«, sagte er.

      Rudi hakte sich bei ihm unter. »Dann schaffen wir es diesmal bis heim, Onkelchen? Was ist, Capaul, helfen Sie zwei Greisen noch mal zu ihrem Auto? Danach packe ich’s allein.«

      Nachdem sie fort waren, wollte Capaul in seinen Chrysler steigen, doch sein Kopfweh war inzwischen so stark, dass er es sich anders überlegte und zum zweiten Mal ins Spital zurückging.

      »Ich bin wohl die Höhe nicht gewohnt«, erklärte er der Pförtnerin und bat um eine Dafalgan-Tablette.

      »Womöglich ist es auch der Wetterwechsel, am Wochenende soll es schneien«, sagte sie lächelnd.

      Das schien ihm doch sehr unwahrscheinlich, viel zu lieblich leuchteten die goldenen Lärchen an den Hängen, er hatte Bienen summen hören, und im Park vor dem Spital tanzten Schmetterlinge.

      »Ich gebe Ihnen eine Brausetablette, die wirkt schneller«, sagte sie noch.

      Er bat: »Geben Sie mir zwei.«

      Das tat sie. »Hier ist auch ein Pappbecher. Wasser finden Sie dort drüben.«

      Sie zeigte zu den Toiletten, die kannte er ja inzwischen. Im Pissoir war der Fußboden überschwemmt, offenbar hatte der Alte wirklich nochmals gelöscht.

      Capaul sagte einer Putzfrau Bescheid, dann setzte er sich ins Auto und fuhr zum Revier. Der Weg war gut beschildert, nur waren alle Parkplätze belegt. Dazu kam, dass unmittelbar hinter dem Polizeiposten die Straße in einem Durchfahrtsverbot endete, die einzige Abzweigung auch. Capaul wollte wenden, das wiederum verhinderte ein Kastenwagen der Polizei. Schließlich manövrierte ihn ein hilfsbereiter Passant rückwärts zwischen Steinpoldern und geparkten Autos hindurch. Er parkte auf dem Gebührenparkplatz unten beim Bahnhof und ging zurück ins Städtchen. Immerhin ließen dabei die Schmerzen nach.

      Der Posten war in einem blassen Bürohaus im Dorfkern untergebracht, das Schmuckste daran waren ein überdimensioniertes Leuchtschild mit der Aufschrift POLIZIA CHANTUNELA GRISCHUN und ein leuchtend gelber Postkasten, der die Hälfte des Eingangs versperrte.

      Capaul klingelte und musste eine Weile warten, ehe drinnen der Summer gedrückt wurde.

      Der Schalterraum war möbliert wie wohl alle Bündner Polizeistationen, auch der Spannteppich war vermutlich der gleiche. Ein Polizist saß einsam hinter dem Computer, auf dem Namensschild stand L. Meier. Linard grinste, als er ihn sah.

      »Capaul, Capaul! Und wo hast du jetzt geparkt?«

      Capaul suchte das Glück in der Flucht nach vorn. »Euer Kastenwagen steht im Weg«, beschwerte er sich. »Da ist auch das Fahrverbot, man kann nicht wenden, und rückwärts kommt man nur mit gütiger Hilfe der Passanten.«

      Linard feixte. »Das war Jon Lucas Einfall. Fahren die Leute durchs Verbot, schnappt er sie. Natürlich nur Touristen, sonst gäbe es schnell böses Blut. So kassieren wir innerhalb von zwei, drei Tagen unser Monatssoll an Bußgeld.«

      Capaul konnte nicht erkennen, ob er sich einen Spaß erlaubte, und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ihr wart vom Malojapass schnell wieder zurück.«

      »Nur ich, um die Meldung aufzugeben. Die anderen sammeln noch Leichenteile ein. Keine Ahnung, ob die Motorräder stärker werden oder nur die Fahrer schlechter, jedenfalls gibt es jedes Jahr mehr Tote.«

      »Woher willst du das wissen? Du bist doch erst ein Jahr im Dienst.«

      »Weil ich lese, hier, Statistik.« Linard zeigte auf den Bildschirm. »Jetzt mache ich Platz, damit du den Rapport schreiben kannst.«

      »Ich bin noch nicht so weit.«

      »Was fehlt denn?«

      »Die Aussage des Opfers.«

      »Opfer«, wiederholte Linard. »Der Mann hat seine eigene Scheune angezündet. Hier, das sind Opfer.« Er tippte auf der Tastatur, drehte den Bildschirm und zeigte Capaul ein Foto des Motorradunfalls. Matsch in Ledercombi, hätte ihr Dozent in Forensik dazu gesagt. »Dein Klient dagegen«, sagte Linard, »ist doch schlicht senil.«

      »Was weißt du davon?« Linard gefiel ihm nicht.

      »Ich weiß noch viel mehr. Dass der Löschmannschaft deine traurigen Augen gefallen, zum Beispiel. Auch ich habe Kontakt zur Feuerwehr.« All das sagte er im selben süffisanten Tonfall. Dann fasste er in die Brusttasche, zückte seinen Ausweis und gab ihn Capaul. »Pinggera hat grauen Star im fortgeschrittenen Stadium und eine beidseitige Makula-Degeneration. Er wird nicht sehen können, wessen Ausweis du ihm unter die Nase hältst. Geh und schließ den Fall ab, sonst muss ich morgen der Sache nachrennen, und dazu habe ich nicht die geringste Lust. Wir sind für morgen mit den Münstertaler Kollegen zur Verkehrskontrolle auf dem Ofenpass verabredetet. Das heißt Sonne tanken. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

      »Das Wetter soll kippen, habe ich gehört.«

      »Erst in der Nacht auf Sonntag. Laut Flugplatzwetterdienst. Wir handeln mit Fakten, Capaul, nicht mit ›soll‹ und ›habe ich gehört‹. Apropos, deine Handynummer. Ich kann dich nicht jedes Mal ausrufen lassen.«

      »Ich habe kein Handy.«

      Linard war einen Augenblick sprachlos. »Wie, ›kein Handy‹? In welchem Jahrhundert lebst du?«

      Das wäre der Moment gewesen, sich abzuwenden und zu gehen. Er verpasste ihn. »Ich gehe gleich«, versprach er. »Aber habt ihr nicht auch eine Bescheinigung, die ich ins Auto legen kann, damit ich nicht ewig einem Parkplatz nachrenne? Auf den Gebührenparkplätzen zahlt man sich ja dumm und dämlich.«

      »Du meinst so was wie das ›Arzt im Dienst‹-Schild?«

      »Ja.«

      »Du verkennst die Situation, du bist nicht im Dienst.«

      »Was dann?«

      »Du tust mir einen Gefallen, das ist alles.«

      Also parkte er auch jetzt, zurück in Zuoz, wieder am Bahnhof und stieg ein gepflastertes Weglein ins Dorf empor. Als er Rainer Pinggeras Haus erreichte, war die Sonne hinter den Dächern verschwunden, und gleich wurde es empfindlich kalt. Mehrmals betätigte er die alte Zugglocke. Da er nichts hörte, nahm er an, dass sie nicht funktionierte, und drückte die Klinke. Die Tür war verriegelt. Er sagte sich, dass die Mieter eine eigene Klingel haben müssten, womöglich gab es einen zweiten Eingang. Er ging ums Haus, doch er fand nichts. Nachdem er abermals geklingelt und versucht hatte, die Tür zu öffnen, sah er hinter den Gardinen eines kleinen Erkers, der spitz wie eine Nase aus der Hausfassade in die Gasse hinausragte, den Alten hocken. Er starrte auf ihn herab, so schien es zumindest.

      Capaul rief: »Ich hätte noch ein paar Fragen. Sehen Sie, ich habe jetzt auch einen Ausweis.« Aber Pinggera rührte sich nicht.

      Währenddessen war Rudis Mercedes die Gasse hinabgerollt, so geräuschlos, dass Capaul ihn erst bemerkte, als die Hitze aus der Kühlerhaube an sein Bein drang. Sobald Rudi ausstieg, öffnete auch der Alte das Fenster und rief: »Gut, dass du kommst, der stellt mir wieder nach.«

      Rudi nahm Capaul kurz den Ausweis aus der Hand und betrachtete ihn lächelnd, dann rief er hoch: »Er ist wirklich Polizist. Und wenn der Staat dich würde töten wollen, Onkelchen, könnte er es viel leichter haben.«

      »Wie denn?«, fragte Capaul verwundert.

      »Ach, Alte seines Schlags muss man nur in ein Heim stecken, und dafür findet


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