EXIT NOW!. Teri Terry

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EXIT NOW! - Teri Terry


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      Die Assistentin bringt mich ins Café und holt mir einen Tee. Ich halte die Tasse mit beiden Händen, damit ich nichts verschütte. Meine Finger zittern.

      An der Wand hängt ein Fernseher. Auf BBC werden Ausschnitte von dem gezeigt, was ich gerade erlebt habe. Zwischenfall nennen sie es. Das Wort mögen sie. Wenn ich es jetzt so auf dem Bildschirm sehe, unseren Wagen in der tobenden Menge, bin ich sofort wieder mittendrin, als würde es noch mal von vorne losgehen. Nur schaue ich dieses Mal von oben drauf.

      In der Berichterstattung heißt es, Vize-Premierminister Gregory sei in eine Protestkundgebung geraten und habe seine Tochter dabeigehabt. Dann erscheint ein Foto von uns. Es ist ein altes Bild, das kurz nach der Wahl vor einem Jahr aufgenommen wurde, da war ich vierzehn, und die hatten mich in ein schreckliches blaues Kleid gesteckt. Die Farbe würde so gut zu meinen Augen passen, meinte Mum, aber als sie mir dann auch noch mein hellblondes Haar zu Korkenzieherlocken gedreht hatten, sah ich viel jünger aus. Dad hat auf dem Foto sein ernstes Politikergesicht aufgesetzt. Damals schien es noch, als könnte er es jederzeit wieder absetzen, aber jetzt sieht er fast immer so aus, und sein kurzes dunkles Haar wird an den Schläfen auch mit jedem Zwischenfall grauer.

      Nachdem unsere Namen genannt wurden, zähle ich langsam im Kopf: Eins, zwei, drei, vier … dann geht es los. Mein Telefon summt mit der ersten Nachricht.

       Alles ok, Sam?

      Ja.

       Was ist passiert?

      Guck’s dir im Fernsehen an. War in echt nur tausendmal lauter.

       Wo bist du?

      Westminster. Tee trinken.

       Hast du gefilmt?

      Ne, hatte andere Probleme.

       Kommst du klar, Süße? Schule fällt heute aus, Daumen drücken für morgen!

       Ja. Ja!!!

       Hast du was gesehen? Hattest du Angst?

      Ich zögere. Gerade waren wir noch auf dem Weg zur Schule und im nächsten Moment … brach die Hölle los. Eine Flut von Eindrücken stürmt auf mich ein: hasserfüllte Gesichter, Geschrei, der Stein an der Fensterscheibe, die Polizei und das Blut. Das Mädchen, das vor meinen Augen gestürzt ist und von der Menge überrannt wurde.

      Und dann lüge ich:

      Ich habe nichts gesehen.

      Ständig bekomme ich neue Nachrichten. Schulfreunde texten mir, meine Kunstlehrerin, meine Cousins, sogar Sandy, die kleine Tochter des Oppositionsführers – Hinz und Kunz. Im Grunde immer: Alles okay? Geht’s dir gut? Und ich antworte Ja, Ja und abermals Ja. Geht mir wohl auch gut. Zumindest bin ich … unversehrt. Die Scheibe ist nicht zu Bruch gegangen. Was dann wohl passiert wäre? Aber ist sie ja nicht. Trotzdem geht es mir nicht gut.

      Ich schreibe mir mit den Leuten, denen ich antworten will, während ich auf den einen Anruf warte, der nicht kommt. Schließlich kann ich mich nicht mehr bremsen und schreibe selbst: Hi Mum, mir geht es gut. Danke, dass du nicht fragst.

      Keine Antwort.

       AVA

      Dankbar lasse ich mich auf meinem Lieblingsplatz nieder, dieser einen Bank in Kensington Gardens. Anderswo blickt man direkt auf die hässlichen neuen Sicherheitszäune um Westminster, aber von hier sieht man sie nicht, und weil die Bank auch fernab der verblassenden Sommerblumen und Hauptwege liegt, kommt hier kaum jemand vorbei.

      Die späte Septembersonne wärmt mir die Arme; der Rasen ist perfekt gepflegt und grün. Eine sanfte Brise weht und die Sirenen sind weit weg. Fast kann ich mir einreden, es gebe sie nicht, doch dann wäre ich jetzt in der Schule.

      In London ist die Schönheit immer ein zweischneidiges Schwert. Und das wird immer schärfer. Einmal hat es mir schon das Herz durchbohrt, aber daran will ich jetzt nicht denken. Zeit, die Wirklichkeit auszublenden und meine Bücher aufzuschlagen. In die Welt der Wörter zu tauchen, meinen anderen Lieblingsplatz.

      Doch ich bin zu abgelenkt und mir tanzen die Buchstaben vor den Augen herum. Der Schmerz hat damit nichts zu tun, weder der alte noch der neue. Es hat einen ganz anderen Grund. Schließlich gebe ich auf und packe die Bücher weg. Lege mich mit dem Rücken auf die Bank, stelle die Beine auf und genieße die Wärme des Holzes, die ich durch mein dünnes Kleid spüre. Die Sonne blendet und ich muss die Augen schließen, aber trotzdem durchläuft mich ein Zittern.

      Warum muss es ausgerechnet sie sein?

      Ich konnte nicht ablehnen. Obwohl ich schon ein Vollstipendium habe, verursacht diese Schule immer wieder neue Kosten. Mein Vater kann nicht noch mehr Schichten übernehmen.

      Mir bleibt nichts anderes übrig, als diesem Mädchen Nachhilfe zu geben.

      Aber warum ausgerechnet ihr?

       SAM

      Drei Tassen Westminster-Tee, zwei Schokoriegel und endlose Berichterstattungen später kommt die Assistentin zurück und sagt mir, dass ich bald nach Hause kann. Meinen Kram habe ich im Auto gelassen, darum zeichne ich jetzt mit einem geliehenen Stift Bilder von heute Morgen auf Papierservietten. Aber das, was dabei herauskommt, ist nicht klar, nicht real genug. Der Aufstand war brutal, Furcht einflößend und sinnlos, aber real. Nicht gesäubert und vertuscht.

      Die Assistentin schaut mir über die Schulter. »Wow! Du bist wirklich sehr gut.«

      Als der Fahrer mich abholen kommt, knülle ich die Servietten zusammen und ziele auf den Mülleimer in der hintersten Ecke des Cafés. Gleich der erste Wurf ist ein Treffer.

      Spät am Abend sitze ich mit Bleistift und Skizzenblock im Bett. Diesmal versuche ich, aus dem Gedächtnis zu zeichnen, was ich gesehen habe, ohne Fernsehbilder. Das ist nämlich nicht das Gleiche. Kamera und Reporter haben einen Filter zwischen mich und die Ereignisse geschoben, so wie bei den Leichen, die in den Nachrichten immer verschwommen zu sehen sind, damit man sie nicht erkennt. Nun wünschte ich, ich hätte mit meinem Handy selbst Fotos gemacht.

      Wenn ich das nächste Mal in einem Aufstand stecke, denke ich dran.

      Dann klopft es an meiner Tür.

      »Ja?«

      Dad steckt den Kopf rein. »Ich habe noch Licht unter deiner Tür gesehen. Solltest du nicht längst schlafen?«

      Ich zucke die Achseln und er kommt rein, sieht die Zeichnungen auf dem Bett. Er zieht sich den Schreibtischstuhl ran, setzt sich neben mich und nimmt meine Hand. Schon lange her, dass er zu mir ins Zimmer gekommen ist, um mir Gute Nacht zu sagen. VdW – vor der Wahl – hat er das immer getan. Und ich weiß, dass er nicht rein zufällig das Licht bei mir gesehen hat. In unserem großen Haus muss er sich schon die Mühe machen und einen extra Schlenker laufen.

      »Tut mir leid, dass ich dich heute Morgen allein lassen musste«, sagt er. »Geht es dir gut?«

      Zum ersten Mal antworte ich ehrlich. »Nein. Eigentlich nicht.«

      »Mir auch nicht. Aber sag es nicht weiter.«

      »Man sieht es ständig im Fernsehen, aber wenn man selbst drinsteckt …« Ich verstumme.

      »Ich weiß. Das ist was anderes.«

      »Worum ging es da? In den Nachrichten meinten sie, es würde für Wohnraum und Arbeitsplätze protestiert. Aber die Menschen waren so wütend.«

      »Anfangs waren die Proteste wohl noch friedlich, aber es gibt immer kriminelle Elemente, die solche Konflikte für ihre eigenen Zwecke nutzen.«

      »Wer steckt diesmal dahinter?«

      »Die Ermittlungen sind …«

      »… noch nicht abgeschlossen. Das haben sie auch im Fernsehen gesagt. Aber weißt du es denn


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