Maigret lässt sich Zeit. Georges Simenon

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Maigret lässt sich Zeit - Georges  Simenon


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       Der 64. Fall

      Georges Simenon

      Maigret lässt sich Zeit

      Mit einem Nachwort von Clemens Meyer

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

      Kampa

      1

      Der Tag hatte so strahlend und fröhlich begonnen wie eine Kindheitserinnerung. Ohne besonderen Grund, einfach weil das Leben schön war, lachten Maigrets Augen, während er frühstückte, und auch in den Augen seiner Frau, die ihm gegenübersaß, spiegelte sich Heiterkeit.

      Durch die weit geöffneten Fenster der Wohnung drangen die Gerüche und die vertrauten Geräusche des Boulevard Richard-Lenoir herein. Die schon warme Luft vibrierte; ein schwacher Dunst, der die Sonnenstrahlen filterte, ließ sie fast greifbar erscheinen.

      »Bist du nicht müde?«

      Während er den Kaffee trank, der ihm heute besonders gut schmeckte, antwortete er überrascht:

      »Warum sollte ich müde sein?«

      »Von der vielen Gartenarbeit gestern … Du hattest schließlich seit Monaten weder Harke noch Spaten in der Hand …«

      Es war ein Montag. Montag, der 7. Juli. Am Samstagabend waren sie mit dem Zug nach Meung-sur-Loire gefahren, wo sie seit einigen Jahren ein kleines Haus für den Tag herrichteten, an dem Maigret sich den Vorschriften entprechend pensionieren lassen musste.

      In zwei Jahren und ein paar Monaten! Mit fünfundfünfzig Jahren! Als ob ein Mann mit fünfundfünfzig, der sozusagen nie krank gewesen war und sich körperlich so stark fühlte wie eh und je, von heute auf morgen nicht mehr fähig wäre, eine Abteilung der Kriminalpolizei zu leiten!

      Aber noch weniger konnte Maigret begreifen, dass er bereits dreiundfünfzig Jahre alt war.

      »Gestern«, sagte er, »habe ich vor allem geschlafen.«

      »In der Sonne!«

      »Mit meinem Taschentuch auf dem Gesicht …«

      Was für ein schöner Sonntag! Ein Ragout schmorte in der niedrigen, blau gefliesten Küche, und der Duft des Johanniskrauts verbreitete sich im Haus. Madame Maigret hatte sich zum Schutz vor dem Staub ein Tuch um den Kopf gebunden und fegte ein Zimmer nach dem anderen aus, während Maigret in Hemdsärmeln, mit aufgeknöpftem Kragen und einem großen Strohhut auf dem Kopf im Garten das Unkraut jätete, hackte und harkte. Nach dem Mittagessen und einem Gläschen weißen Landweins schlief er schließlich in einem rot-gelb gestreiften Liegestuhl ein, wo ihn bald die Sonne erreichte, ohne ihn aber aus seinem Schlummer zu reißen.

      Auf der Rückfahrt im Zug fühlten sich beide wohlig schwer und benommen. Ihre Lider kribbelten, und der Geruch, der sie umgab, erinnerte Maigret an seine Jugend auf dem Land, ein Geruch von Heu, trockener Erde und Schweiß: der Geruch des Sommers.

      »Noch etwas Kaffee?«

      »Gern.«

      Selbst die blau karierte Schürze seiner Frau erfreute ihn, weil sie so frisch und ein wenig naiv wirkte – ebenso wie die Sonne, die sich in den Scheiben des Büfetts spiegelte.

      »Es wird heiß werden heute.«

      »Ja, sehr.«

      Er würde die Fenster zur Seine hin aufmachen und in Hemdsärmeln arbeiten.

      »Wie wäre es, wenn ich heute zum Mittagessen Hummer mit Mayonnaise machen würde?«

      Es tat gut, den Gehweg entlangzuschlendern, auf den die Markisen der Läden dunkle Rechtecke warfen, und neben einem jungen Mädchen in einem hellen Kleid an der Ecke des Boulevard Voltaire auf den Bus zu warten.

      Er hatte Glück. Ein alter Bus mit einer Plattform hielt am Straßenrand, und er konnte seine Pfeife weiterrauchen, während die Pariser Straßen und die Passanten an ihm vorbeizogen.

      Warum erinnerte ihn das an eine farbenprächtige Parade, zu der ganz Paris herbeigeströmt war, damals, als er gerade geheiratet hatte und ein schüchterner junger Sekretär im Kommissariat des Viertels Saint-Lazare gewesen war? Irgendein ausländischer Monarch war mit seinem prunkvollen Gefolge in Vierspännern durch die Straßen gefahren, und die Helme der Gardisten hatten in der Sonne gefunkelt.

      Über Paris hatte der gleiche Geruch, das gleiche Licht und die gleiche Erschöpfung gelegen wie heute.

      Damals dachte er noch nicht an seine Pensionierung. Das Ende seiner Karriere, das Ende seines Lebens schienen ihm so weit entfernt, dass er keinen Gedanken daran verschwendete. Und jetzt kümmerte er sich um das Haus, in dem er seinen Lebensabend verbringen würde!

      Er empfand keine Melancholie, sondern betrachtete mit einem milden Lächeln das Châtelet, die Seine, einen Angler in der Nähe des Pont au Change – mindestens einer war immer dort – und dann die Anwälte in ihren schwarzen Talaren, die im Hof des Palais de Justice gestikulierten.

      Endlich erreichte er den Quai des Orfèvres, wo er jeden Pflasterstein kannte und von wo man ihn fast verbannt hätte.

      Vor nicht einmal zehn Tagen hatte ein herrischer Polizeipräfekt, der die Polizeibeamten der alten Schule nicht besonders schätzte, Maigrets Rücktritt verlangt. Er solle sich vorzeitig pensionieren lassen, wie der Präfekt es elegant ausgedrückt hatte, weil er angeblich leichtsinnig gehandelt hatte.

      Nichts oder fast nichts von dem, was in der Akte stand, die er nachlässig durchgeblättert hatte, stimmte, und Maigret hatte drei Tage und drei Nächte darauf verwendet, das zu beweisen, ohne dabei auf die Hilfe seiner Mitarbeiter zurückgreifen zu dürfen.

      Nicht nur das war ihm gelungen, er hatte auch den Urheber der ganzen Intrige zu einem Geständnis gebracht: einen Zahnarzt aus der Rue des Acacias, der mehrere Verbrechen auf dem Gewissen hatte.

      Aber das gehörte jetzt schon der Vergangenheit an. Nachdem er die beiden Wache stehenden Polizisten gegrüßt hatte, ging er die breite Treppe hinauf in sein Büro, öffnete die Fenster, legte seinen Hut und seine Jacke ab und betrachtete die Seine mit den vorbeifahrenden Schiffen, während er sich langsam eine Pfeife stopfte.

      Obwohl jeden Tag Unvorhergesehenes geschah, gab es doch auch beinahe rituelle Gesten, die er ausführte, ohne darüber nachzudenken, so zum Beispiel, dass er die Tür zum Büro der Inspektoren aufmachte, sobald die Pfeife brannte.

      Da die Ferienzeit bereits begonnen hatte, waren vor vielen Schreibmaschinen und Telefonen die Stühle nicht besetzt.

      »Guten Tag, Kinder … Kommst du mal kurz, Janvier?«

      Janvier leitete die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Einbrüchen bei Juwelieren, oder besser gesagt den Diebstählen aus Schaufenstern von Juweliergeschäften. Der letzte war am vergangenen Donnerstag am Boulevard Montparnasse verübt worden, nach der gleichen Methode, die schon seit zwei Jahren erfolgreich angewandt wurde.

      »Gibt’s was Neues?«

      »Fast nichts. Es waren wieder junge Leute: laut Zeugenaussagen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Auch diesmal waren zwei am Werk: Einer hat die Scheibe mit einem Wagenheber eingeschlagen. Der andere hat die Schmuckstücke zusammengerafft und in einen schwarzen Leinensack gestopft, der Komplize hat ihm geholfen. Der Coup war sorgfältig vorbereitet. Ein cremefarbenes Auto hat in zweiter Reihe gehalten, gerade so lange, dass die beiden Täter einsteigen konnten, und ist dann im Verkehrsgewühl verschwunden.«

      »Waren sie maskiert?«

      Janvier nickte.

      »Und der Fahrer?«

      »Nicht alle Zeugenaussagen stimmen überein, aber es scheint, dass auch er jung war, mit dunkelbraunen Haaren und gebräuntem Teint. Es gibt nur einen neuen, aber ziemlich vagen Hinweis: Eine Gemüsehändlerin hat kurz vor dem Diebstahl einen nicht sehr großen, breitschultrigen Mann mit Boxergesicht bemerkt, der ein paar Meter von dem Juweliergeschäft entfernt stand, als würde


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