Die Leiden des jungen Werther. Johann Wolfgang von Goethe

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Die Leiden des jungen Werther - Johann Wolfgang von Goethe


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so zählt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muss gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend. — Nun das war lustig anzusehen. Sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. Eins, fing der erste an, der Nachbar zwei, drei der folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da versah’s einer, patsch! eine Ohrfeige, und über das Gelächter der folgende, auch patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte zwei Maulschellen, und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, dass sie stärker seien, als sie sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie, über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen! — Ich konnte ihr nichts antworten. — Ich war, fuhr sie fort, eine der furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden. — Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrlichiste Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte — Klopstock! —Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoss. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küsste sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder — Edler! hättest Du Deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möchte ich nun Deinen so entweihten Namen nie wieder nennen hören.

      Am 19. Juni.

      Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weiss ich nicht mehr; das weiss ich, dass es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und dass, wenn ich Dir hätte vorschwatzen können statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an den Morgen aufgehalten hätte.

      Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch nicht erzählt, habe auch heute keinen Tag dazu.

      Es war der herrlichste Sonnenaufgang! Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte? ihretwegen sollt’ ich unbekümmert sein. — So lange ich diese Augen offen sehe, sagte ich, und sah sie fest an, so lange hat’s keine Gefahr. — Und wir haben beide ausgehalten, bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, dass Vater und Kleine wohl seien und alle noch schliefen. Da verliess ich sie mit der Bitte: sie selbigen Tages noch sehen zu dürfen; sie gestand mir’s zu, und ich bin gekommen; und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiss weder dass Tag, noch dass Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.

      Am 21. Juni.

      Ich lebe glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart; und mit mir mag werden, was will, so darf ich nicht sagen, dass ich die Freuden des Lebens nicht genossen habe. — Du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von dort habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl’ ich mich selbst, und alles Glück das dem Menschen gegeben ist.

      Hätt’ ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, dass es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche einschliesst, auf meinen weitern Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebene über den Fluss gesehen!

      Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den innern Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, in dem Geleise der Gewohnheiten so hinzufahren, und sich weder um rechts noch um links zu bekümmern.

      Es ist wunderbar: wie ich hierher kam, und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich ringsumher anzog. Dort das Wäldchen! — Ach könntest Du Dich in seine Schatten mischen! — Dort die Spitze des Berges! — Ach könntest Du von da die weite Gegend überschauen! — Die ineinander geketteten Hügel und vertraulichen Täler! — O könnte ich mich in ihnen verlieren! — — eilte hin und kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O, es ist mit der Ferne, wie mit der Zukunft! ein grosses dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt darin, wie unser Auge und wir sehnen uns, ach! unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, grossen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen — Und ach! wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.

      So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.

      Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe, nach meinem Wahlheim, und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in meinem Homer lese, wenn ich in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke, und mich dazu setze, sie manchmal umzuschütteln; da fühl’ ich so lebhaft, wie die übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.

      Wie wohl ist mir’s, dass mein Herz die simple harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoss, und da er an dem fortschreitenden Wachstum seine Freude hätte, alle in einem Augenblicke wieder mit genjesst.

      Am 29. Juni.

      Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann, und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein grosses Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legte und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich liess mich aber in nichts stören, liess ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln, und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe sie nun völlig.

      Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe, und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinn künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen erblicke, alles so unverdorben, so ganz! — immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! Und nun, mein Bester, sie, die unseres gleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! — Haben wir denn keinen? — Und wo liegt das Vorrecht? — Weil wir älter sind und gescheiter! — Guter Gott von deinem Himmel! alte Kinder siehst du, und junge Kinder und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben an ihn, und hören ihn nicht — das ist auch was altes — und bilden ihre Kinder nach sich, und — Adieu, Wilhelm! ich mag darüber nicht weiter radotieren.

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