Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
Читать онлайн книгу.enthalten: »Der arme Soldat, der auf deinen Sohlen herumlaufen muß, Annemarie! Der bekommt nach dem ersten Marsch Hühneraugen!«
Annemarie lachte mit der Klasse um die Wette, sowas nahm sie durchaus nicht übel.
Ihren Kniewärmer hatte sie oben und unten zusammengehäkelt, damit er nur recht schön warm sein sollte. Wenn die deutschen Soldaten auch überall vorwärtsstürmten und vor keinem Hindernis zurückschreckten, das sollte ihnen doch wohl schwer werden, sich zu Nesthäkchens Kniewärmern den Eingang zu erkämpfen. Da hieß es denn auftrennen und besser machen. Das tat das kleine Fräulein höchst ungern.
Für den Kopfschützer aber, den sie Onkel Heinrich sandte, bekam sie eine Feldpostkarte mit einem drolligen Gedicht. In diesem dankte Onkel Heinrich ihr innig, daß sie doch immerhin noch soviel Platz in dem Kopfschützer gelassen habe, daß er nicht ganz erstickt sei. Nur das Gehirn sei ihm auf einer Seite etwas eingedrückt worden. Das Gedicht, das Annemarie der jubelnden Klasse vorlas, schloß:
»Sollt’s ein Kopfschützer auch sein,
ich trag’ ihn als Strumpf am Bein.«
Dagegen schrieb Vater, den sie mit einer Leibbinde beglückt hatte, ob sein Nesthäkchen ihn für ein Nilpferd gehalten habe. Die Leibbinde sei von so gewaltigen Dimensionen, daß er sein ganzes Lazarett da noch mit hineinwickeln könne. Aber sonst waren Vaters Zeilen eigentlich nicht sehr vergnügt. Ihm selbst ging es trotz aller Anstrengung und all dem Traurigen, was er zu sehen bekam, ganz gut. Aber er machte sich heftige Sorgen um seine Frau, von der immer noch jede Nachricht ausstand.
Jeden Morgen lief Annemarie, meist barfuß und im Nachthemd, wie sie aus dem Bette sprang, an die Eingangstür, sobald sie die Briefschaften durch die Türklappe fallen hörte – stets umsonst. Kein Brief von Mutti war dabei, auch Großmamas Schreiben über Holland war bisher unbeantwortet geblieben.
Nesthäkchen gab ihrem Vatchen eine übermütige Schilderung ihrer Erlebnisse als »Wickelkindmutter«, um ihn froher zu stimmen. Sie erzählte ihm von dem Junghelferinnenbund, den sie in der Schule gegründet, und daß jetzt die ganze Klasse Mutterstelle bei dem kleinen Flüchtling vertrete.
Wie jubelte Annemarie, als der gute Vater ihr zwanzig Mark sandte, als Grundlage für die Kasse des Junghelferinnenbundes. Sie selbst war als ehemalige Pflegemutter zu dem Ehrenamt gewählt worden, diese Erziehungskasse zu verwalten und die Beiträge jeden Ersten des Monats einzusammeln. Das einzige Unangenehme dabei war, daß sie dabei sorgfältig über alle Beträge Buch führen mußte. Ohne Fräuleins Hilfe wäre Huschellieschen wohl niemals damit zustandegekommen.
Der Kinderwagen mit dem lustig strampelnden Mäxchen stand in der warmen Oktobersonne auf der Straße, als Annemarie und Margot heute in die Schule gingen. Da mußte natürlich haltgemacht werden.
»Margot, er hat mich eben bestimmt angelacht, er kennt mich schon.« Annemarie war überglücklich.
Freundin Margot, die peinlich pünktliche, hörte nicht mehr. Die lief schon voraus, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Annemarie aber konnte sich von ihrem kleinen Pflegling nicht so schnell trennen. Als sie sich endlich zum Weitergehen entschloß, holte sie Margot, trotzdem sie lange Schritte machte, nicht mehr ein.
Himmel – da schlug die Uhr schon drei, der Nachmittagsunterricht hatte bereits begonnen. Fräulein Drehmann würde mit Recht ärgerlich sein und ihre Entschuldigung, daß sie sich mit dem Pflegekind des Junghelferinnenbundes versäumt habe, nicht gelten lassen. Noch dazu schrieb man ja Klassenaufsatz!
Annemarie begann zu rennen. Ohne rechts und links zu blicken, lief sie in das rote Schulhaus, jagte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zur sechsten Klasse.
Entsetzt prallte sie zurück.
Statt der über die Aufsatzhefte geneigten Mädchenköpfe sahen sie lachende Soldatenaugen an. Überall auf Bänken und Tischen hockten Feldgraue, putzten ihre Stiefel, bürsteten ihr Zeug und sangen dazu Vaterlandslieder.
Aber beim Anblick des bestürzten Blondkopfes verstummten dieselben. »Na, Fräuleinchen, willst du uns helfen?« schallte es ihr lachend entgegen.
Annemarie faßte sich an die Stirn. Hatte sie sich verlaufen, war sie in die unweit von der Volksschule gelegene Kaserne geraten? Nein, dort hing ja noch die Landkarte von Afrika, die sie gestern benutzt hatten.
»Wo sind denn bloß die Schülerinnen alle hingekommen, und wieso sind denn jetzt Soldaten hier?« Doktors sonst so schlaues Nesthäkchen fand sich heute durchaus nicht zurecht.
»Wir sind eure neuen Lehrer, wir sollen die kleinen Mädchen im Exerzieren eindrillen«, lachte ein Witzbold. Die anderen lachten mit. Einem aber, einem braven, älteren Landwehrmann, der selbst Kinder zu Hause hatte, tat das verdutzte kleine Mädel leid.
»Nee, Mäuschen, laß dir nichts weismachen. Die Schule ist Hals über Kopf zur Kaserne umgewandelt worden, weil nicht genügend Unterkunft war. Nu werden wir statt eurer hier fleißig sein …«
»Ja – aber – wo sind denn bloß die andern?« Annemarie fing beinahe an zu weinen.
Die Leute zuckten die Achseln. »Wahrscheinlich wieder nach Haus gegangen. Ihr seid ja schon klug genug, Kinder – ach was, im Krieg braucht man überhaupt nichts zu lernen« – so scherzten sie durcheinander.
Doch der sonst so lustigen Annemarie war es heute ganz und gar nicht spaßig zumute. Das kam davon, daß sie sich so verweilt hatte. Aber wenn die Kinder nach Hause geschickt worden wären, hätte sie dieselben doch treffen müssen. Margot, die den gleichen Schulweg hatte, doch ganz bestimmt. Die Tränen, die das kleine Mädchen mit Gewalt zurückhielt, begannen jetzt doch zu fließen. Das Taschentuch mußte in Tätigkeit gesetzt werden. Wo nun hin?
Ringsum Soldaten. Aus allen Klassen, auf allen Korridoren klangen ihre Lieder. Unten im Hof, wo sich die Kinder sonst in den Pausen ergingen, wuschen sie am Brunnen ihre Drelljacken. Zögernd stand Doktors Nesthäkchen am Eingangstor. Sollte es einfach die Schule schwänzen und heimgehen? Bei all ihrem Übermut war Annemarie eine fleißige Schülerin, das brachte sie nicht fertig.
Langsam schlenderte sie der Ecke zu. Dort lag das Gymnasium der Brüder. Die waren längst aus der Schule.
Nanu – aus dem Schulhof klangen ja Stimmen, das summte und surrte doch genau so wie in der Zwischenstunde bei ihnen in der Schule. Dabei war doch heute Mittwoch, da hatten die Jungen keinen Nachmittagsunterricht. Neugierig versuchte das kleine Mädchen durch die geöffnete Haustür einen Blick in den Schulhof zu werfen.
Ja – waren denn das nicht blaue, rote und weiße Mädchenkleider, die da durch die Spalte schimmerten?
Annemarie pirschte sich aufgeregt näher heran.
Da fühlte sie sich plötzlich an ihrem Zöpfchen gepackt.
»Na, wer ergeht sich denn hier draußen, anstatt drin im Hof, wie es die Schulordnung vorschreibt?« Das war die heisere Stimme des alten Herrn Professor Herwig, der den Herrn Direktor vertrat.
Annemarie erschien seine wenig melodische Stimme wie Engelsgesang.
»Ach, Herr Professor, können Sie mir nicht sagen, wo unsere Schule hingekommen ist? Ich kann sie gar nicht finden, in allen Klassen sind Soldaten!« sagte Annemarie mit tiefem Knicks.
»Wo die Schule hingekommen ist?« – der Herr Professor lachte. »Das nenne ich aber in der Tat den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ja, hörst du denn nicht den Lärm der Zwischenstunde?« Der alte Herr machte eine Bewegung nach dem Hof hin.
»Hier sind wir jetzt?« Annemarie hätte in ihrer Seligkeit, am Ziel ihrer Irrfahrt angelangt zu sein, den alten Professor am liebsten umarmt.
»Auf ein paar Tage sind wir hier einquartiert, bis wir anderswo ein Obdach finden«, scherzte Professor Herwig, der das Glück deutlich aus den blauen Kinderaugen leuchten sah. »Aber sage mal,« setzte er ernst werdend hinzu, »wie kommt denn das, daß du nicht mit den andern hierher geführt worden bist – warst du von einer Stunde dispensiert?«
Wenn sie jetzt »ja« sagte, dann war die ganze peinliche Angelegenheit erledigt. Einen