Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
Читать онлайн книгу.auch tüchtig Arbeit während der Reichswollwoche. Sie und eine große Anzahl anderer Jungen waren von ihrer Schule aus der Ehre teilhaftig geworden, mit einem Handwagen von Haus zu Haus zu fahren, und in jeder Wohnung die zusammengesuchten Wollsachen in Empfang zu nehmen. Immer drei Jungen zu einem Handwagen. Wer das den Primanern und Obersekundanern wohl jemals früher zugemutet hätte, einen Handwagen voll Lumpen auf der Straße zu ziehen, der wäre von ihnen nicht schlecht angesehen worden. Und jetzt – stolz waren die Herren Gymnasiasten darauf, die Wollsachen zu sammeln, aus denen Strickwolle zu warmen Sachen für die Truppen hergestellt wurde. Denn Englands Absperrung begann sich im Handel bemerkbar zu machen.
Annemarie war zum erstenmal in ihrem Leben mit ihrem Los nicht zufrieden. Ach, daß sie nicht auch ein Junge war! Wenn die Brüder großartig ihre Listen herauszogen, auf denen die Straßen, die ihnen für jeden Tag zugewiesen wurden, verzeichnet standen, dann fühlte sie sogar etwas wie Neid. Brennend gern wäre sie mit dem Handwagen herumgezogen.
»Kläuschen, liebes gutes Kläuschen, könntest du mich nicht ein einziges Mal mitnehmen?« flüsterte Annemarie dem Bruder bittend zu, ehe er sich eines Nachmittags wieder aus die Wanderung begab.
Statt jeder Antwort tippte der Tertianer ausdrucksvoll gegen die Stirn.
Aber das hielt die Schwester noch lange nicht davon ab, ihn weiter mit ihren Bitten zu bombardieren.
»Ein einziges Mal ja bloß – ich schenke dir dafür auch den Kasten Konfekt, den mir Tante Albertinchen gestern mitgebracht hat.«
Das zog. Für Süßigkeiten war Klaus zu allem zu haben. Das wußte das Schlauköpfchen natürlich.
»Nee – es geht nicht«, sagte er schon etwas weniger abweisend. »Mädel können da nicht mit rumziehen, da schäme ich mich vor den andern Jungs.«
»Ach, Mäuschen, ich ziehe meine blauen Turnhosen an und dazu die gestreifte Matrosenbluse, und die Haare verstecke ich ganz unter der Matrosenmütze – da sehe ich bestimmt wie ein Junge aus. Nicht wahr, du nimmst mich mit, Kläuschen?« Annemarie vollführte bereits einen Luftsprung.
»Großmama wird’s nicht erlauben – – –« wandte der Bruder, durch den lustigen Verkleidungsstreich halb, und durch Tante Albertinchens Konfekt ganz besiegt, noch ein.
»Ach, Großmuttchen schläft doch jetzt. Bis sie aufwacht, bin ich längst wieder zurück. Fräulein besucht ihren verwundeten Vetter im Lazarett, und Hanne läuft gerade nach Petroleum herum, das so knapp ist. Da merkt kein Mensch, daß ich weg bin. In fünf Minuten bin ich fertig –« fort war sie bereits.
Es dauerte noch nicht mal so lange, da trat ein allerliebster blonder Junge wieder in das Zimmer, gegen den Klaus nichts mehr einzuwenden hatte.
»Die beiden Schulkameraden, die mit mir fahren, kennen dich nicht, ich sage einfach, ich habe meinen kleinen Bruder mitgebracht, vorwärts!« Unter Lachen und Kichern stürmten die zwei die Treppe hinab, wo bereits die beiden andern »Lumpenmätze«, so wurden die Einsammler von den nicht zu diesem Ehrenamt erwählten Schülern genannt, mit ihrem Handwagen warteten.
»Mein kleiner Bruder«, stellte Klaus verschmitzt lachend vor, während Annemarie ihr errötendes Gesicht schnell zur Seite wenden mußte. »Komm, Karlchen, wir werden zuerst ziehen, jetzt ist der Wagen noch schön leicht.«
Klaus und das kichernde »Karlchen« spannten sich vor, und fort rumpelte die elegante Equipage, durch die vornehmen Straßen des Westens.
Mit glänzenden Augen trabte Annemarie als Ziehhund voran. Nie in ihrem Leben, selbst damals, als sie eine Prämie in der Schule bekam, war sie so ungeheuer stolz gewesen.
Die Knaben hatten heute zum Glück ihre Tätigkeit nur in der Nähe. Die beiden andern gingen mit ihrem Ausweisschein in die Wohnungen, während Klaus und Annemarie den Wagen bewachten. Mit reicher Beute an ehemaligen Flanellunterröcken, zerrissenen Unterhosen, Teppichstücken und Lumpen kehrten sie aus den Wohnungen zurück. So ging es von Haus zu Haus, der Wagen wurde allmählich schwerer. Der Strick schnitt Nesthäkchen in die Hände. Aber das störte das Vergnügen nicht.
»Was der kleine Kerl schon für Muskeln hat«, sagte einer der fremden Jungen anerkennend. Das spornte Annemarie von neuem an.
Die im Märzsonnenschein liegende Straße kam eine Dame herauf. Das kleine Mädchen äugte scharf hin – heiliger Bimbam – das war ja Fräulein Neubert, die strenge Lehrerin des Schubertschen Lyzeums. Wenn die sie bloß nicht erkannte!
Fräulein Neubert kam näher und schaute sich, wie auch die andern Vorübergehenden, die Lumpenequipage, die man sonst nicht in den Straßen Berlins sah, mit ihren netten jungen Begleitern interessiert an.
Annemarie drehte sich fast den Hals aus, so sehr wandte sie den Kopf nach der entgegengesetzten Richtung. Aber wenn Fräulein Neubert sie nun doch erkannte, wenn sie ihr am Ende morgen einen Tadel gab, weil sie nicht gegrüßt hatte – herzklopfend schielte Annemarie ein wenig zur Seite. Da begegnete sie gerade Fräulein Neuberts Augen und – das Wunder geschah: Der bildhübsche Junge machte zum Staunen der Lehrerin und der gerade Vorübergehenden einen wohlerzogenen Knicks.
Klaus gab ihr einen ärgerlichen Puff. »Was sollen denn die Jungs von dir denken, du mußt die Mütze ziehen, wenn du grüßt.«
Richtig – daran hatte Nesthäkchen in der Aufregung gar nicht gedacht, daß es ja jetzt »Karlchen« war.
Die Jungen, die hinter dem Wagen hergingen, um aufzupassen, daß nichts verloren ging oder gestohlen wurde, hatten zum Glück den sonderbaren Gruß nicht bemerkt.
»So, Braun, jetzt mußt du und dein kleiner Bruder hausieren gehen, wir wechseln nun ab«, sagte einer von ihnen, als sie in eine neue Straße einbogen.
Braun und sein »kleiner Bruder« machten sich auf den Weg.
In dem ersten Hause, das sie betraten, wickelte sich alles sehr schnell ab. Die einzelnen Mieter hatten bereits sämtliche Wollsachen zum Verwalter gegeben, wo die Kinder sie in Empfang nahmen. Aber im Nebenhaus mußten Klaus und »Karlchen« treppauf, treppab. Die meisten Leute waren freundlich zu den beiden frischen Jungen; aber da gab es auch welche, die ihnen wie einem lästigen Bettler die Tür vor der Nase zuschlugen.
Das etwas empfindliche kleine Fräulein fing beinahe an zu weinen.
»Du, Klaus«, Annemarie zupfte den Bruder, der an der gegenüberliegenden Tür klingeln wollte, zaghaft am Ärmel. »Du, wenn die hier uns auch rausschmeißen, dann mach’ ich nicht mehr mit.«
»Denn läßt es bleiben – für unsere Soldaten können wir uns ganz ruhig mal rausschmeißen lassen.«
Nein, in der gegenüberliegenden Wohnung wurden sie freundlich empfangen.
»Kommt nur herein, ihr könnt euch die Sachen gleich nehmen, sie liegen hier im Zimmer schon bereit. Wirst du denn auch alles tragen können, mein Sohn?« Die Dame klopfte Annemarie freundlich die frische Wange und führte sie beide in ein kleines, sonnenhelles Balkonzimmer. Dort saß ein zarter Knabe über seine Schulbücher. Beim Eintritt der fremden Jungen hob er den klugen Kopf, und »Kurt – Kurt!« brüllte der kleinere blonde plötzlich los und eilte freudestrahlend auf ihn zu.
»Annemarie, bist du’s denn wirklich?« Kurts Augen strahlten glücklich auf. »Das ist Annemarie Braun, mit der ich im Wittdüner Kinderheim war und mit der ich zusammen nach Haus gereist bin«, erklärte er seiner Mutter.
Die sah lächelnd auf das von ihr mit »mein Sohn« angeredete erglühende kleine Mädchen. »Kurt hat mir viel von dir erzählt, ein halber Junge scheinst du mir danach ja schon immer gewesen zu sein, nun bist du wohl ein ganzer geworden?« sagte sie scherzend mit einem Blick aus die Hosen.
»Nee – nee – ich – ich wollte bloß so schrecklich gern mit Klaus – das hier ist mein Bruder Klaus – mit zur Wollsammlung«, stotterte Annemarie verwirrt.
»Ich habe immer gedacht, du würdest mich mal besuchen, Annemarie, du hattest es mir doch versprochen. Aber du scheinst mich ganz vergessen zu haben«, meinte Kurt ein wenig vorwurfsvoll.
»Ja, ich habe