Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury

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Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury


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noch mit einem Hundertmarkschein versehen. Der war sorgsam in ihrem Handtäschchen untergebracht. Krampfhaft hielt sie dasselbe in der Hand und sah jeden Mitreisenden mißtrauisch an, ob er auch keine bösen Absichten gegen ihren Schatz hege.

      Allmählich schwand der Argwohn. Man freundete sich miteinander an. Dies ungekünstelte, freundliche Wesen des reisenden Backfisches gewann ihm auch hier bald die Herzen.

      Das Riesengebirge wurde mit blaugrauen Höhenzügen sichtbar. Liegnitz mit seinen alten Häusern zog vorüber. Wieder Wälder, Wiesen, Windmühlen, rote und weiße Kopftücher zwischen goldenen Halmen.

      Abendrosen blühten schon am westlichen Himmel in purpurner Pracht auf. Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle von Sagan ein. Nun war es nicht mehr weit bis Berlin. Nur noch dreiundeinhalb Stunden. Annemarie konnte schon die Zeit nicht mehr erwarten.

      Da trat der Schaffner in ihr Abteil. »Sagan – alles aussteigen – der Zug fährt nicht weiter.«

      Nanu – was sollte denn das heißen?

      Da war der Beamte auch schon davon, um im nächsten Abteil dasselbe zu melden.

      Größte Verwirrung allenthalben. Zwei Damen rafften ängstlich ihr vieles Handgepäck zusammen. Ein Herr schimpfte, er rühre sich nicht vom Platz. Er habe sein Geld bis Berlin bezahlt und wünsche nun auch hinbefördert zu werden. Ein anderer wieder drängte zum Aussteigen. Sicher war etwas an der Maschine in Unordnung und man würde mit einem anderen Zuge weiterbefördert werden.

      Das leuchtete auch Annemarie ein. Sie griff nach ihren Sachen. Etwas reichliches Gepäck war es. Tante Käthchen hatte nicht damit gerechnet, daß Annemarie zwischen Breslau und Berlin, wo sie von den Eltern sicher auf dem Bahnhof erwartet wurde, noch einmal würde umsteigen müssen. Zwei Eierkisten, eine für die Großmama, eine für die Eltern. Den schweren Rucksack schnallte sie auf. Aber dann war da noch der Korb, aus dem es öfters mal leise piepte. Junge Hühner waren da drin. Annemarie wußte gar nicht, wie sie mit ihren Siebensachen hinauskommen sollte.

      Nun stand sie endlich in einem Menschenknäuel auf dem von der Abendsonne bestrahlten Bahnsteig. Man umlagerte den Mann mit der roten Mütze. Der zuckte gleichmütig die Achsel. »Eisenbahnerstreik proklamiert, es fährt kein Zug mehr.«

      »Ich muß aber nach Berlin,« schrie ein Herr wütend.

      »Dann müssen Sie sich ein Luftschiff mieten,« rief irgendein Spaßvogel.

      Die Reisenden liefen in unbeschreiblicher Aufregung durcheinander. Jeder hoffte noch irgendwo eine Möglichkeit zur Weiterreise zu erlangen. Vergebens. Die schwarzen, fauchenden Eisenungetüme standen mitleidslos still. Kein Rad drehte sich mehr – der Streik hatte jeglichen Verkehr jäh unterbrochen.

      Annemarie war wie benommen. Was nun? Wie würden sich die Eltern um ihr Ausbleiben sorgen. Vor allen Dingen ein Telegramm nach Hause senden. So huschlig und unüberlegt das Backfischchen auch manchmal war, jetzt, wo die Stunde es verlangte, handelte es verständig.

      Die Post war gegenüber. Annemarie gab Rucksack, Eierkisten und piepsendes Gepäck in den Aufbewahrungsraum.

      Vor der Post staute sich eine Menschenschlange. Alle wollten sie den Telegraphendraht in Anspruch nehmen. Da kamen die ersten schon wieder aus dem Postgebäude heraus. »Telegrammdienst gesperrt – alles streikt!« riefen sie aufgeregt.

      »Da soll doch der Deibel reinschlagen!« machte sich jemand wütend Luft.

      Überall wurden Rufe der Enttäuschung und des Ärgers laut. Dazwischen stand Doktors Nesthäkchen mit dem schlausten Gesicht der Welt. Was sollte es denn jetzt bloß beginnen?

      »Wir müssen schleunigst in die Stadt gehen, sonst bekommt man keine Unterkunft in den Hotels mehr und hat das Vergnügen, bei Mutter Grün zu logieren,« sagte ein Herr zu seiner Frau in Annemaries Nähe.

      Da zog schon eine Karawane die baumbestandene Straße, die sich zum Städtchen hineinwand, entlang. Ganz benommen schloß sich Annemarie dem Zuge an. Allein in einem Hotel in einer fremden Stadt – so keck Doktors Nesthäkchen auch für gewöhnlich war, diesem Außergewöhnlichen gegenüber versagte ihre Keckheit. Auch lastete ihr die Sorge der Eltern schwer auf der Seele und ließ ihren sonst so fröhlichen Mut nicht aufkommen.

      Die Stadt war beinahe erreicht, still und friedlich lag sie im Grünen im letzten Abendglanz. Da durchzuckte es Annemarie plötzlich heftig wie ein körperlicher Schmerz – ihre Handtasche – das Täschchen mit dem Hundertmarkschein – wo war es? Die Menschen, die Bäume, die Häuser begannen sich zu drehen. Eiskalt überlief es sie.

      Beim Aussteigen hielt sie es noch in der Hand – bestimmt! Hatte sie es durch das viele Handgepäck auf dem Bahnhof verloren? Oder vor dem Postgebäude? Jedenfalls zurück, suchen – suchen!

      Scharen von Menschen kamen ihr entgegen. »Haben Sie nicht eine kleine dunkelgrüne Handtasche gefunden?« Wie oft stellte Annemarie diese Frage auf der kurzen Strecke zum Bahnhof zurück! Und wie oft erhielt sie die gleiche niederschmetternde Antwort »nichts gefunden«.

      Die Menschenmenge auf dem Bahnhof hatte sich ziemlich verlaufen. Das Suchen auf dem Perron wurde dadurch erleichtert. Auf und nieder lief das junge Mädchen in grenzenloser Aufregung. Nirgends eine Spur von dem grünen Täschchen. Weder Stationsvorsteher noch Gepäckträger hatten dasselbe gesehen. Auch im Handgepäckraum fand es sich nicht. Damit schwand Annemaries letzte Hoffnung.

      Die Nacht zog auf. Mit goldenen Flimmersternen am dunkelblauen Samthimmel senkte sie sich still auf das Getriebe des Tages herab. Ach, wer jetzt ein Dach über seinem Haupt, eine Lagerstatt sein nannte! Wie glücklich, wie beneidenswert war der!

      Ohne Geld nachts in einer fremden Stadt! Doktors Nesthäkchen wußte nicht, wohin es sich wenden sollte, wo es einen Unterschlupf fand. Die Julinacht war warm. Längs der Landstraße hatte man Heuschober errichtet. Sollte sie dort unterkriechen? Nein – nein – das sonst so dreiste Mädel war plötzlich wie ausgetauscht.

      Du liebes Giebelstübchen in Arnsdorf, wenn sie sich doch noch dort geborgen fühlen könnte! Und daheim warteten die Eltern vergebens: wer konnte wissen, wie lange die Eisenbahn-und Postsperre andauerte! Wovon sollte sie inzwischen ihr Leben fristen?

      Halt – die Futterkiste von Tante Käthchen! Wie gut, daß sie die wenigstens noch hatte. Ja, hatte sie dieselbe denn noch? Sie hatte sie ja der Aufbewahrungsstelle übergeben und dafür eine Marke in Empfang genommen. Wo war die Marke? Annemarie kramte in ihren Manteltaschen und in ihrem Gedächtnis nach. Die Marke kam nicht zum Vorschein. Dunkel erinnerte sich Annemarie, daß sie die Marke in ihr grünes Täschchen gelegt hatte. Folglich hatte sie die Tasche erst nachher verloren. Ob der Beamte ihr das Handgepäck ohne Marke herausgab? Der Andrang war groß gewesen. Er kannte sie bestimmt nicht wieder. Versuchen mußte man es jedenfalls. Auch meldete sich jetzt von dem vielen Hin-und Herlaufen wieder der Hunger, den das junge Mädchen in der Aufregung nicht gespürt. Der Rucksack war noch umfangreich. Das war wenigstens ein Trost.

      O Tücke des Schicksals – die Handgepäckstelle war bereits geschlossen. Aber der Wartesaal daneben sandte einladende Lichtstrahlen in das Dunkel hinaus. Ob sie sich hineinwagte?

      Auf den Bänken, die an den Wänden des großen Raumes entlang liefen, saßen müde Menschen zusammengekauert. Größtenteils Reisende der vierten Wagenklasse, die nicht in der Lage waren, ein teures Hotel aufzusuchen.

      Annemarie gesellte sich zu ihnen. Die meisten schliefen. Einige waren mit Vertilgen von umfangreichen Schnitten beschäftigt oder beruhigten weinende Kinder. Annemaries gesunder Appetit wuchs, als sie andere essen sah, und es sich selbst versagen mußte. Ihre Blauaugen wurden begehrlich.

      Das gemeinsame Mißgeschick, das sie alle betroffen, überbrückte das Fremdsein. Man plauderte miteinander und erwog die Möglichkeit einer Weiterreise. Auch Annemarie beteiligte sich in ihrer freimütigen Art an dem Gespräch. Sie berichtete von ihrem Verlust und fand lebhaftes Mitgefühl. Ja, als man hörte, daß sie ihren Rucksack mit den Eßvorräten abgegeben habe und heute nicht mehr herausbekäme, wurden ihr von allen Seiten milde Gaben zuteil. Die eine reichte ihr ein Käsebrot, der andere Obst. Aber merkwürdig – Annemaries großer Hunger war plötzlich wie fortgeweht.


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