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Auf dem Balkon hatte die ganze Braunsche Familie, Puck eingerechnet, Aufstellung genommen. Die Jungen ließen ihre Taschentücher flattern und schrien »Hurra«, als die Droschke unten hielt.

      Die Mutter aber faltete beim Klang der Pfingstglocken ihre Hände und dankte Gott aus tiefem Herzensgrund, daß er ihren Liebling behütet hatte.

      5. Kapitel

       Ein schwerer Entschluß

       Inhaltsverzeichnis

      Ach – war das schön wieder daheim! Alles erschien Annemarie ganz neu. Ihr Kinderzimmer, das die Brüder mit Pfingstmaien in eine grüne Laube verwandelt hatten, all ihre Bücher und Spiele. Und ihre Lieben selbst, die sie so lange entbehrt hatte. Mutti ging sie in den ersten drei Tagen nicht von der Seite. Es war rührend, das Glück des kleinen Mädchens zu beobachten, wieder von der Mutter geliebkost und gestreichelt zu werden. Fräulein und Hanne lasen ihr jeden Wunsch von den Augen. Hans schenkte ihr Federn und Löschblätter vor Freude, sein kleines Schwesterchen wieder daheim zu haben. Und selbst der wilde Klaus ärgerte sie nicht, wenigstens nicht gleich, weil sie am Ende doch noch zu schwach dazu sein konnte.

      Ja, schwach war die Annemarie freilich noch. Mutti war entsetzt als sie ihr Nesthäkchen so verändert wieder sah. Was war aus ihrer blühenden Lotte geworden! Die runden rosigen Grübchenwangen schmal und durchsichtig blaß, die strahlenden Augen matt, und der Körper abgemagert und elend.

      Aber »Kinderfleisch wandert nicht weit«, tröstete Großmama, die natürlich bei dem Empfang nicht fehlte. Großmama war eine kluge Frau, aber diesmal irrte sie sich. Annemarie erholte sich schwer. Ihre einst so drallen Beinchen sahen wie Zahnstocher aus. Ob Hanne auch die kräftigsten Happen für »ihr Kind« kochte, ob Mutti sie auch wie einen Säugling mit Milch, die Annemarie nicht mal mochte, päppelte. Die alte Frische wollte nicht wiederkehren.

      Die Brüder fanden, daß Annemarie »quarrig« geworden sei. Hans war schon groß genug, um dies auf die überstandene Krankheit zu schieben. Klaus aber, dessen zarte Rücksichtnahme sich bald legte, nannte sie eine »olle Transuse«. Und als sie gar eines Tages verschmähte, mit ihm in die herrliche große Gasröhre, welche Arbeiter vor ihrem Hause liegen gelassen, zu kriechen, da hatte seine einst so getreue Genossin bei allen Streichen ein für allemal bei ihm verspielt. Sie war auch nicht besser wie die anderen zimperlichen Mädel!

      In der Schule zeigte es sich ebenfalls, daß Annemarie ihr frisches, lebhaftes Wesen durch die Krankheit eingebüßt hatte. Soweit es sich nur auf ein ruhigeres Verhalten in den Stunden erstreckte, war ja das kein Fehler. Leider war Annemarie aber auch beim Unterricht oft abgespannt und teilnahmslos.

      Sie war nun in die neue Klasse gekommen und hatte gleich im Anfang viel versäumt. Fräulein Drehmann, die fremde Klassenlehrerin, kannte sie und ihre früheren Leistungen noch nicht und glaubte, es mit einem unbegabten, unaufmerksamen Kinde zu tun zu haben. Bei der ersten Rangordnung wanderte Annemarie Braun, die einstige Erste, auf die vierte Bank herunter. All ihre Freundinnen, ja, selbst Ruth und Erna Rust saßen jetzt über ihr. Das war eine böse Erfahrung für Annemaries Ehrgeiz.

      Margot Thielen, die glücklich war, ihre Annemarie endlich wieder zu haben, tröstete sie, daß sie bald wieder heraufkommen würde. All ihre Hefte lieh sie ihr, daß die Freundin das Versäumte nachholen konnte. Aber das erlaubte Doktor Braun nicht, das geschwächte Kind sollte so viel Zeit wie möglich im Freien zubringen, im Tiergarten oder im Grunewald. Nur die schriftlichen Aufgaben durfte sie zu Haus anfertigen. Alles Mündliche mußte Fräulein beim Spazierengehen mit ihr durchnehmen.

      Die Mutter war dafür, ihrer blassen Lotte von Fräulein Hering, die so lieb zu dem Kinde gewesen, einige Nachhilfestunden erteilen zu lassen. Dadurch würde Annemarie leichter in der siebenten Klasse mitkommen und sich weniger anzustrengen brauchen.

      Aber auch davon wollte der Arzt nichts wissen.

      »Nein, Elsbeth, wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, daß unsere Lotte ihre alten Kräfte zurückerlangt. Wenn sie erst körperlich wieder frisch ist, wird sie die Schulweisheit leicht bewältigen. Wir haben nun schon alles mögliche angewandt: Hämatogen und Sanatogen, Malzextrakt und Kiefernadelbäder, aber ich sehe noch keinen rechten Erfolg. Das richtigste ist, wir schicken die Krabbe an die Nordsee. Grade bei solchen durch überstandene Krankheit erholungsbedürftigen Kindern wirkt sie oft Wunder.«

      »Mir soll’s recht sein, Edmund. Obwohl ich persönlich lieber ins Gebirge gefahren wäre. Aber wenn du es für notwendig hältst, reisen wir während der großen Ferien mit den Kindern an die Nordsee.«

      »Das genügt nicht, mein Herz«, der Arzt zögerte, seiner Frau den Vorschlag zu machen, der ihr, wie er wohl wußte, weh tun würde. »Fünf bis sechs Ferienwochen sind gar nichts für ein Kind, das derart heruntergekommen ist. Das muß mal ein ganzes Jahr lang Nordseeluft schnappen.« Er machte eine Pause und sah seine Frau erwartungsvoll an.

      Frau Doktor Braun lachte hell auf.

      »Na, da können wir ja alle auf ein Jahr nach Helgoland oder Sylt übersiedeln. Du hängst deine Praxis an den Nagel und gehst auf den Hummerfang, und ich stricke Netze.« Wieder lachte sie.

      Annemarie, die im anliegenden Kinderzimmer ihren vierblättrigen Kleetopf von Tante Albertinchen begoß, steckte neugierig den Blondkopf zur Tür herein, was es denn da drin gar so Lustiges gäbe. Aber »wir können dich hier nicht brauchen, Lotte, gehe nur wieder in deine Kinderstube«, rief ihr der Vater zu. Da zog sich das kleine Fräulein beleidigt zurück.

      Drinnen im Wohnzimmer jedoch wurde weiter über sein Geschick verhandelt.

      »Ich machte keinen Scherz, Elsbeth, es ist mein völliger Ernst. Grade Winterkuren am Meer bewähren sich glänzend. Ich habe verschiedene Kinder in meiner Praxis, die danach erst aufgeblüht sind.«

      Die Mutter lachte nicht mehr.

      »Ja, aber Edchen, wie denkst du dir das denn eigentlich? Soll ich ein ganzes Jahr lang mit dem Kinde von Hause fort? Wer sollte hier wohl für dich sorgen? Und Klaus möchte ich dann auch nicht sehen, den Banditen, wenn der ein Jahr lang Mutters strenge Zügel entbehren müßte!« Frau Doktor Braun wurde nicht klug aus ihrem Mann.

      Aber das sollte schneller geschehen, als ihr lieb war.

      »Es gibt genügend Kinderheime in den Nordseebädern, wo erholungsbedürftige Kinder vorzüglich aufgehoben sind. Für Aufsicht, Pflege und guten Schulunterricht wird Sorge getragen und – – –«

      »Was! – ein ganzes Jahr lang soll ich mich von meinem Nesthäkchen trennen, das ich kaum erst wieder habe – nein, das ertrage ich nicht! Und du selbst, Edmund, wie würde dir unsere Lotte erst fehlen – sie ist doch unser Sonnenschein!« Frau Doktor Braun rief es in größter Aufregung.

      Ihr Mann hatte diese Einwendungen alle vorausgesehen.

      »Je mehr uns das Kind ans Herz gewachsen ist, umso weniger dürfen wir an uns selbst denken, sondern nur an sein Heil. Gewiß, Annemarie kann sich auch hier allmählich erholen. Aber sie wird niemals ein so kräftiges Mädchen werden, wie wir vor ihrer Krankheit allen Grund hatten zu hoffen. Sie wird immer ein zartes, anfälliges Pflänzchen bleiben. Überleg’ dir’s in Ruhe, mein Herz,« fügte Doktor Braun noch liebevoll hinzu, als er sah, wie blaß seine Frau geworden. »Wir müssen ja die Entscheidung nicht gleich fällen.«

      Aber gibt es für Mutterliebe noch eine Überlegung, wenn es sich um das Wohl des Kindes handelt? Mutterliebe denkt niemals an sich selbst.

      »Dann schon lieber gleich, wenn es sein muß, Edmund. Ich bin eine Doktorfrau und mag eine schmerzhafte Operation nicht lange hinausschieben. Nur eins mußt du mir versprechen: Wenn sich Annemarie dort nicht behagt oder sich gar heim bangt, das bring’ ich nicht übers Herz, sie dann trotzdem in der Fremde zu lassen.«

      »Sollst du auch nicht, Elsbeth. Aber es wäre das erstemal, daß sich ein Kind in solchem Nordseeheim unter fröhlichen Altersgenossen nicht wohl fühlt. Meistens wollen sie überhaupt nicht wieder nach Haus. Übrigens fährst du natürlich


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