Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur Schopenhauer
Читать онлайн книгу.auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.« (Diese Gleichnisse finden sich in unzähligen Stellen der Veden und Puranas wiederholt.) Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts Anderes, als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung, unterworfen dem Satze des Grundes.
§ 4
Zeit aber und Raum, jedes für sich, sind auch ohne die Materie anschaulich vorstellbar; die Materie aber nicht ohne jene. Schon die Form, welche von ihr unzertrennlich ist, setzt den Raum voraus, und ihr Wirken, in welchem ihr ganzes Daseyn besteht, betrifft immer eine Veränderung, also eine Bestimmung der Zeit. Aber Zeit und Raum werden nicht bloß jedes für sich von der Materie vorausgesetzt; sondern eine Vereinigung Beider macht ihr Wesen aus, eben weil dieses, wie gezeigt, im Wirken, in der Kausalität, besteht. Alle gedenkbaren, unzähligen Erscheinungen und Zustände nämlich könnten im unendlichen Raum, ohne sich zu beengen, neben einander liegen, oder auch in der unendlichen Zeit, ohne sich zu stören, auf einander folgen; daher dann eine nothwendige Beziehung derselben auf einander und eine Regel, welche sie dieser gemäß bestimmte, keineswegs nöthig, ja nicht ein Mal anwendbar wäre: folglich gäbe es alsdann, bei allem Nebeneinander im Raum und allem Wechsel in der Zeit, so lange jede dieser beiden Formen für sich, und ohne Zusammenhang mit der andern ihren Bestand und Lauf hätte, noch gar keine Kausalität, und da diese das eigentliche Wesen der Materie ausmacht, auch keine Materie. – Nun aber erhält das Gesetz der Kausalität seine Bedeutung und Nothwendigkeit allein dadurch, daß das Wesen der Veränderung nicht im bloßen Wechsel der Zustände an sich, sondern vielmehr darin besteht, daß an dem selben Ort im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein anderer, und zu einer und der selben bestimmten Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung der Zeit und des Raums durch einander giebt einer Regel, nach der die Veränderung vorgehn muß, Bedeutung und zugleich Nothwendigkeit. Was durch das Gesetz der Kausalität bestimmt wird, ist also nicht die Succession der Zustände in der bloßen Zeit, sondern diese Succession in Hinsicht auf einen bestimmten Raum, und nicht das Daseyn der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Veränderung, d. h, der nach dem Kausalgesetz eintretende Wechsel, betrifft also jedesmal einen bestimmten Theil des Raumes und einen bestimmten Theil der Zeit zugleich und im Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit. Wir haben aber gefunden, daß im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt seyn, d.h. sie muß die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, so sehr sich Beide widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen Beiden für sich unmöglich ist, muß sie in sich vereinigen, also die bestandlose Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes, die unendliche Theilbarkeit hat sie von Beiden. Diesem gemäß finden wir durch sie zuvörderst das Zugleichseyn herbeigeführt, welches weder in der bloßen Zeit, die kein Nebeneinander, noch im bloßen Raum, der kein Vor, Nach oder Jetzt kennt, seyn konnte. Das Zugleichseyn vieler Zustände aber macht eigentlich das Wesen der Wirklichkeit aus: denn durch dasselbe wird allererst die Dauer möglich, indem nämlich diese nur erkennbar ist an dem Wechsel des mit dem Dauernden zugleich Vorhandenen; aber auch nur mittelst des Dauernden im Wechsel erhält dieser jetzt den Charakter der Veränderung, d.h. des Wandels der Qualität und Form, beim Beharren der Substanz, d.i. der Materie9. Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken: eben mit dem Wirken ist aber auch die Vorstellung der Materie aufgehoben. In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig: kein Beharren, kein Nebeneinander und daher kein Zugleich, folglich keine Dauer: also wieder auch keine Materie. Erst durch die Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die Materie, d.i. die Möglichkeit des Zugleichseyns und dadurch der Dauer, durch diese wieder des Beharrens der Substanz, bei der Veränderung der Zustände10. Im Verein von Zeit und Raum ihr Wesen habend, trägt die Materie durchweg das Gepräge von Beiden. Sie beurkundet ihren Ursprung aus dem Raum, theils durch die Form, die von ihr unzertrennlich ist, besonders aber (weil der Wechsel allein der Zeit angehört, in dieser allein und für sich aber nichts Bleibendes ist) durch ihr Beharren (Substanz), dessen Gewißheit a priori daher ganz und gar von der des Raumes abzuleiten ist11: ihren Ursprung aus der Zeit aber offenbart sie an der Qualität (Accidenz), ohne die sie nie erscheint, und welche schlechthin immer Kausalität, Wirken auf andere Materie, also Veränderung (ein Zeitbegriff) ist. Die Gesetzmäßigkeit dieses Wirkens aber bezieht sich immer auf Raum und Zeit zugleich und hat eben nur dadurch Bedeutung. Was für ein Zustand zu dieser Zeit an diesem Ort eintreten muß, ist die Bestimmung, auf welche ganz allein die Gesetzgebung der Kausalität sich erstreckt. Auf dieser Ableitung der Grundbestimmungen der Materie aus den uns a priori bewußten Formen unserer Erkenntniß beruht es, daß wir ihr gewisse Eigenschaften a priori zuerkennen, nämlich Raumerfüllung, d.i. Undurchdringlichkeit, d.i. Wirksamkeit, sodann Ausdehnung, unendliche Theilbarkeit, Beharrlichkeit, d.h. Unzerstörbarkeit, und endlich Beweglichkeit: hingegen ist die Schwere, ihrer Ausnahmslosigkeit ungeachtet, doch wohl der Erkenntniß a posteriori beizuzählen, obgleich Kant in den »Metaphys. Anfangsgr. d. Naturwiss.«, S. 71 (Rosenkranz. Ausg., S. 372) sie als a priori erkennbar aufstellt.
Wie aber das Objekt überhaupt nur für das Subjekt daist, als dessen Vorstellung; so ist jede besondere Klasse von Vorstellungen nur für eine eben so besondere Bestimmung im Subjekt da, die man ein Erkenntnißvermögen nennt. Das subjektive Korrelat von Zeit und Raum für sich, als leere Formen, hat Kant reine Sinnlichkeit genannt, welcher Ausdruck, weil Kant hier die Bahn brach, beibehalten werden mag; obgleich er nicht recht paßt, da Sinnlichkeit schon Materie voraussetzt. Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn Beide sind Eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft, und es ist eine große, Vieles umfassende, von mannigfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität aller ihrer Äußerungen. Umgekehrt ist alle Kausalität, also alle Materie, mithin die ganze Wirklichkeit, nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande. Die erste, einfachste, stets vorhandene Aeußerung des Verstandes ist die Anschauung der wirklichen Welt: diese ist durchaus Erkenntniß der Ursache aus der Wirkung: daher ist alle Anschauung intellektual. Es könnte dennoch nie zu ihr kommen, wenn nicht irgend eine Wirkung unmittelbar erkannt würde und dadurch zum Ausgangspunkte diente. Dieses aber ist die Wirkung auf die thierischen Leiber. Insofern sind diese die unmittelbaren Objekte des Subjekts: die Anschauung aller andern Objekte ist durch sie vermittelt. Die Veränderungen, welche jeder thierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d.h. empfunden, und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluß in abstrakten Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar, nothwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnißweise des reinen Verstandes, ohne welchen es nie zur Anschauung käme; sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges Bewußtsein der Veränderungen des unmittelbaren Objekts übrig bliebe, die völlig bedeutungslos auf einander folgten, wenn sie nicht etwan als Schmerz oder Wollust eine Bedeutung für den Willen hätten. Aber wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht; so verwandelt der Verstand mit einem Schlage, durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d.i. Wirksamkeit. Diese Welt als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand da. Im ersten Kapitel meiner Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben« habe ich bereits auseinandergesetzt, wie aus den Datis, welche die Sinne liefern, der Verstand die Anschauung schafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke, welche vom nämlichen Objekt