Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte. Martin Luther

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Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte - Martin Luther


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Hiller ist ihr Name; ich besinne mich jetzt. Als ich zum letztenmal bei ihr war, las sie mir ein Weihnachtsgedicht vor, und dies gefiel mir so, daß ich sie bat, es mir abschreiben zu dürfen. Ich habe es drucken lassen und verkaufe es nun.«

      »Welches ist es?«

      »Gleich das erste.«

      »Also das mit der Überschrift: Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem?«

      »Ja. Das müssen Sie lesen, unbedingt lesen, oder vielmehr ich selbst werde es Ihnen vorlesen, denn dies richtig thun zu können, muß man eine auserwählte Gabe besitzen, den Sinn des Gedichtes zu erfassen und mit dem auf-und absteigenden Fall des Tones das Herz des Zuhörers zu ergreifen. Erlauben Sie mir also!«

      Er nahm das Heft dem Wirte wieder aus der Hand, schlug es auf und stellte sich an, das Gedicht zu deklamieren.

      »Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!« wieder so ein gassenfrommer Titel! Jedenfalls war der Wert des Gedichtes diesem Titel angemessen. Ich mochte es gar nicht hören und stand auf, um hinauszugehen. Schon war ich fast an der Thür, als er begann:

      »Ich verkünde große Freude,

       Die Euch widerfahren ist,

       Denn geboren wurde heute

       Euer Heiland Jesus Christ!«

      Man kann sich denken, daß ich vor Erstaunen stehen blieb. War es denn möglich, daß ich mein Gedicht, wirklich mein Gedicht da hörte? Oder war es ein anderes mit zufällig denselben Anfangsversen? Ich horchte weiter; ja, es war das meinige, Wort für Wort das meinige, welches er mit näselnder Stimme bis zu Ende deklamierte. Ich kehrte an meinen Tisch zurück, auf welchem das von mir gekaufte Heft lag, schlug es auf und las: »Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem – Reuegedicht eines verlorenen, aber durch das Lesen unserer Schriften wiederbekehrten Sünders.«

      Ich war baff! Sollte ich lachen, oder sollte ich mit den Fäusten dreinschlagen? Da hörte ich, noch ehe ich einen Entschluß fassen konnte, die Worte des Prayer-man:

      »Wenn Sie sich von der Wirkung dieses Gedichtes überzeugen wollen, so sehen Sie sich den Fremden dort an!«

      Er zeigte mit der Hand auf mich und fuhrt fort:

      »Er war zu sparsam, sich den Quell der Gnade ganz zu kaufen; er hat nur einen Tropfen davon bezahlt, aber dieser eine Tropfen schon hat ihn so ergriffen, daß er in seinen Busen greift und auch die andern Hefte noch verlangen wird. Ich eile, seine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten!«

      Nach diesen Worten holte er die von mir zurückgewiesenen Hefte aus dem Koffer, legte sie mir wieder vor und hielt mir die Hand hin, um das Geld in Empfang zu nehmen. Ich fühlte mich durch diese Frechheit in jenen innern Zustand versetzt, welchen Winnetou mit den Worten zu bezeichnen pflegte:

      »Mein Bruder wird gleich losschießen; er hat die Patronen schon im Munde und auch in den Fäusten.«

      Ich pflegte dann gewöhnlich im freundlichsten Tone zu sprechen; aber was dann folgte, war nichts weniger als Freundlichkeit. So fragte ich jetzt auch den Prayer-man mit gutmütigem Lächeln:

      »Das Gedicht hat allerdings einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ist Ihnen der Verfasser bekannt?«

      »Ja,« antwortete er.

      »Wer und was ist er?«

      »Er war ein berüchtigter Pferdedieb.«

      »Ah, er war – – ist es also nicht mehr?«

      »Nein, denn das Lesen unserer Schriften hat ihn zur Reue geführt. Seine Reue war so tief, daß er sich kurz vor seinem Tode noch hinsetzte, um diese Verse zu dichten.«

      »Vor seinem Tode? Er lebt also nicht mehr?«

      »Nein. Oder wissen Sie nicht, daß Pferdediebe hier in den Staaten gehängt werden?«

      »Ah, gehängt worden ist er also! Das wissen Sie genau?«

      »Ja; ich war es ja, von dem er die Schriften bekam, die ihn zur Reue führten, und bin bei seinem seligen Verscheiden zugegen gewesen.«

      »Er war ein Deutscher?«

      »Was denken Sie, Herr! Hat es jemals einen Deutschen gegeben, welcher zum Pferdedieb geworden ist?! Nein, er war ein Irishman.«

      »Ich hörte aber doch, daß Sie das Gedicht bei einer Frau Hiller abgeschrieben und dann erst in Druck gegeben haben?«

      »Ja, das ist richtig,« gestand er zu und fuhr nach einer Pause der Verlegenheit fort: »Diese Frau hat eine Abschrift des Gedichtes von dem betreffenden Gefängnisbeamten bekommen.«

      »Stand der Name des Dichters dabei, als Sie es abschrieben?«

      »Ja, ich habe ihn aber nicht notiert, um den armen Teufel, der so selig in das Jenseits gegangen ist, nicht im Diesseits noch zu blamieren.«

      Ich hatte meine Fragen einander immer schneller folgen lassen und sie in einem immer steigenden Tone ausgesprochen. Er beachtete das gar nicht und war jetzt sogar so unverfroren, mich aufzufordern:

      »Sie haben die Macht der wahren Reue erkannt, lieber Herr, und werden nach dieser Erkenntnis zu handeln wissen. Hier nehmen Sie nun auch die andern Schriften! Ich werde Ihnen nur zwei Dollars und fünfzig Cents dafür berechnen.«

      Jetzt war es mit meiner Zurückhaltung zu Ende. Ich prasselte ihn förmlich an:

      »Schwindler, der Sie sind! Sie sagten vorhin, ich hätte in meinen Busen gegriffen; ich aber sage Ihnen, daß ich Ihretwegen weder in meinen Busen noch in meinen Beutel greife! Sie wären der Kerl dazu, meine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten! Bekümmern Sie sich um Ihre eigene Seele, die Ihnen wohl noch genug zu schaffen machen wird! Der Dichter dieser Strophen soll ein Pferdedieb gewesen sein, der an seinem Stricke selig in das Jenseits hinübergeschieden ist, weil Sie, Sie unverschämter Lügner, ihn durch Ihre Schriften von der ewigen Verdammnis errettet haben? Sie wagen, mir zu sagen, daß ein Irländer ein solches Gedicht in deutscher Sprache schreiben kann? Sie wagen es, auch mir die in Ihren Druckwerken enthaltene Seligkeit für zwei und einen halben Dollar anzubieten? Hier haben Sie den Rummel. Lesen Sie ihn selbst, denn Sie bedürfen der Reue und Buße mehr als selbst der allerschlimmste Pferdedieb!«

      Bei diesen Worten warf ich ihm die Schriften ins Gesicht. Er stand vor Erstaunen und Zorn eine ganze Minute bewegungslos, dann trat er hart an mich heran, hielt mir die geballten Fäuste vor das Gesicht und rief:

      »Was haben Sie gethan?! Und wie haben Sie mich genannt?! Einen Schwindler und einen unverschämten Lügner! Ich soll schlimmer sein als ein Pferdedieb! Sagen Sie nur noch ein solches Wort, so haue ich Sie zu Staub!«

      Er that, als ob er ausholen wolle.

      »Nieder mit den Händen!« befahl ich ihm. »Weil Sie auch einer sind, schäme ich mich in meinem Leben zum ersten mal, ein Deutscher zu sein! Der Dichter dieser Strophen soll gehängt worden sein! Wissen Sie, wer es ist? Er steht hier vor Ihnen, und Sie werden mir den Vorrat, den Sie haben, ausliefern, damit ich ihn verbrennen lasse!«

      »Sie – Sie – – Sie wollen der Dichter sein?« lachte er höhnisch auf. »Ihr Gesicht ist ja ein solches Schafs – –«

      Weiter kam er in seiner Rede nicht, denn ich gab ihm eine solche Ohrfeige, daß er, zwei Stühle mit sich niederreißend, zu Boden stürzte. Er sprang aber schnell wieder auf, riß ein langes Messer aus der Tasche und drang damit, vor Wut keine Worte findend, auf mich ein. Ich empfing ihn mit dem emporgehobenen Fuß und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt gegen den Leib, daß er wieder niederstürzte. Noch hatte er sich nicht halb aufgerafft, so stand ich bei ihm, nahm ihn mit der linken Hand beim Genick, riß ihn vollends empor, schlug ihm mit der Rechten das Messer aus der Hand, gab ihm noch zwei schallende Ohrfeigen, schleifte ihn zu seinem Koffer und befahl ihm dort:

      »Heraus mit den Gedichten, die verbrannt werden müssen! Wenn du nicht sofort gehorchst, helfe ich nach!«

      Der fromme Mann hatte mehr als genug. Er schien sich zwar weigern zu wollen, aber ein vermehrter Druck an seinem Halse brachte


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