Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
Читать онлайн книгу.der des Mittelschlages, die gleichwol auch Freude und Vortheile gewährt, sondern von der ächten und vollkommenen, wie sie nur bei Wenigen war, die einen geschichtlichen Namen haben. Denn eine solche Freundschaft läßt einerseits unser Glück in schönerem Lichte erscheinen, andererseits erleichtert sie das widrige Geschick durch Theilnahme und Mitgefühl.
VII. 23. Sehr viele und sehr große Vortheile umfaßt die Freundschaft in sich; der vorzüglichste aber besteht unstreitig darin, daß sie uns für die Zukunft vorleuchtend freudige Hoffnung gewährt und den Muth nicht erschlaffen oder sinken läßt. Wer nämlich auf einen ächten Freund hinschaut, schaut gleichsam auf das Abbild seines eigenen Ichs 78. Darum sind Abwesende anwesend, Dürftige reich, Schwache stark und, was noch auffälliger klingt, Todte lebendig. So groß ist die Ehre, das Andenken und die Sehnsucht der Freunde, die sie begleitet. Aus diesem Grunde erscheint mir der Tod der Einen glückselig, das Leben der Anderen preiswürdig.
Nimmt man aber das Band des Wohlwollens aus der Welt heraus, so wird weder ein Haus noch eine Stadt bestehen können, nicht einmal der Ackerbau wird fortdauern. Begreift man dieß nicht hinreichend, so läßt sich aus den verschiedenen Arten von Uneinigkeit und Zwietracht deutlich erkennen, wie groß die Macht der Freundschaft und der Eintracht ist. Denn wo ist ein Haus so dauerhaft gegründet, wo steht eine bürgerliche Gemeinde so fest, daß sie nicht durch Haß und Zerwürfniß von Grund aus zerstört werden könnte? Hieraus kann man urtheilen, wie viel Gutes in der Freundschaft liegt.
24. Ein gelehrter Mann aus Agrigent 79 soll in Griechischen Gedichten gesungen haben: »Was in der Natur und in der ganzen Welt fest stehe, und was sich bewege, das verknüpfe die Freundschaft und trenne die Zwietracht«. Und das ist Etwas, was alle Sterblichen sowol begreifen als auch durch die That als wahr anerkennen. Zeigt sich daher einmal ein Beispiel von Diensteifer eines Freundes, indem er Gefahren übernimmt oder theilt; wer erhebt dieß nicht mit den größten Lobsprüchen? Welches Beifallsgeschrei erscholl neulich im ganzen Schauspielhause bei dem neuen Stücke meines Gastgenossen und Freundes Marcus Pacuvius 80 bei dem Auftritte, wo der König nicht wußte, welcher von Beiden Orestes sei, und Pylades sich für Orestes ausgab, um sich für ihn hinrichten zu lassen; Orestes aber, wie er es auch wirklich war, bei der Versicherung verharrte, er sei Orestes! Man erhob sich und klatschte Beifall, obwol es nur eine Dichtung war; was, meinen wir, würde man wol bei einem Falle aus der Wirklichkeit gethan haben? Unwillkürlich äußerte hier das natürliche Gefühl seine Stärke, indem die Leute eine That, die sie selbst zu vollbringen sich zu schwach fühlten, doch an einem Anderen schön fanden.
So weit glaubte ich meine Absichten über die Freundschaft aussprechen zu können; gibt es sonst noch einige Punkte, – und ich glaube, es gibt deren noch viele, – so sucht, wenn's beliebt, bei den Leuten Belehrung, die solche Gegenstände berufsmäßig zum Gegenstande ihrer gelehrten Untersuchungen machen.
Fannius.
25. Wir möchten es aber lieber von dir hören, wiewol ich oft auch bei jenen Belehrung gesucht und ihre Ansichten gehört habe, und zwar nicht ungern; aber deine Behandlungsart ist eine ganz andere.
Scävola.
Mit noch vollerem Rechte würdest du dieses sagen, wenn du neulich in den Gärten des Scipio zugegen gewesen wärest 81, als über den Staat gesprochen wurde. Wie trat er damals als Vertheidiger der Gerechtigkeit gegen den gründlichen Vortrag des Philus auf!
Fannius.
Für einen so gerechten Mann war es freilich eine leichte Aufgabe die Gerechtigkeit zu vertheidigen.
Scävola.
Wie? Die Freundschaft zu vertheidigen, ist das nicht leicht für einen Mann, der wegen der ausgezeichneten Treue, Standhaftigkeit und Gerechtigkeit, mit der er dieselbe bewahrte, den größten Ruhm geärntet hat?
Lälius.
VIII. 26. Das heißt ja Einem Gewalt anthun. Was verschlägt es denn, wie ihr mich zwingt? zwingen thut ihr mich gewiß. Denn den Wünschen seiner Schwiegersöhne, zumal in einer guten Sache, entgegenzutreten ist schwer und nicht einmal billig.
Je öfter ich nun über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir die Frage der Betrachtung werth, ob das Gefühl der Schwäche und Hülfsbedürftigkeit 82 das Verlangen nach Freundschaft erweckt habe, um durch gegenseitige Dienstleistungen das von einem Anderen zu erhalten, was man für seine Person allein nicht vermag, und es hinwiederum durch einen Gegendienst zu vergelten; oder ob vielmehr dieß zwar ein wesentliches Merkmal der Freundschaft sei, aber ein anderer Grund vorhanden sei, der älter und schöner ist und mehr in der unmittelbaren Natur seine Quelle hat 83.
Die Liebe nämlich, woher das Wort Freundesliebe kommt, das bei uns so viel als Freundschaft bedeutet 84, ist die erste Veranlassung zur Begründung gegenseitigen Wohlwollens. Denn äußere Vortheile genießt man auch oft von Solchen, welche man unter dem Scheine der Freundschaft besonderer Umstände wegen ehrt und achtet; in der Freundschaft hingegen gibt es keine Lüge, keine Verstellung, sondern Alles, was in ihr ist, ist Wahrheit und freier Wille. 27. Darum scheint mir der Ursprung der Freundschaft in einem Naturtriebe vielmehr zu liegen als in dem Bedürfnisse und mehr in der mit einem gewissen Gefühle der Liebe verbundenen Anschmiegung des Gemüthes als in der Erwägung, wie viel Vortheil sie bringen werde.
Was es mit diesem Triebe für eine Bewandtniß habe, kann man auch an einigen Thieren 85 bemerken, die ihre Jungen bis zu einem gewissen Zeitpunkte so lieben und so von ihnen wiedergeliebt werden, daß ihr Gefühl leicht in die Augen fällt. Und dieß tritt bei dem Menschen noch weit sichtbarer hervor: erstens in der zärtlichen Liebe zwischen Kindern und Aeltern 86, deren Band nur durch einen verabscheuungswürdigen Frevel zerrissen werden kann; sodann in dem Erwachen eines ähnlichen Gefühles von Liebe, sobald wir einen Menschen gefunden haben, mit dessen Charakter und Wesen wir übereinstimmen, insofern wir in ihm gleichsam ein leuchtendes Vorbild der Rechtschaffenheit und Tugend zu erblicken glauben. 28. Denn es gibt nichts Liebenswürdigeres als die Tugend, Nichts, was mehr zur Hochachtung anlockt, da wir ja um der Tugend und Rechtschaffenheit willen sogar Menschen, die wir nie sahen, auf irgend eine Weise unsere Hochachtung schenken.
Wer konnte zum Beispiel des Gajus Fabricius, des Manius Curius 87 ohne das Gefühl wohlwollender Achtung gedenken, obwol er sie nie sah? Wer hingegen sollte den Tarquinius Superbus, wer den Spurius Cassius 88, den Spurius Mälius 89 nicht hassen? Mit zwei Heerführern wurde in Italien um die Oberherrschaft gestritten, mit Pyrrhus und Hannibal. Dem Ersteren sind unsere Herzen wegen seines Biedersinnes nicht eben abhold; den Letzteren wird wegen seiner Grausamkeit unser Staat ewig hassen 90.
IX. 29. Wenn nun die Wirkung der Rechtschaffenheit so groß ist, daß wir sie sogar an Personen, die wir nie sahen, oder, was noch mehr sagen will, selbst am Feinde hochschätzen; was Wunder, wenn auf die Gemüther der Menschen die deutliche Wahrnehmung der Tugend und Herzensgüte Anderer, mit denen sie durch Umgang verbunden sein können,