Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Читать онлайн книгу.mußte ich mich mit einem Tau an den Mast festbinden lassen, um nicht von dem überdampfenden Wasser weggespült zu werden. Zum Unglück hatte ich noch meine Ölhose vergessen, so daß ich im Nu durchnäßt war und sehr fror.
Die steife Brise brachte uns ein gutes Stück vorwärts. Wir schimpften nur darüber, daß der Steuermann nicht die Courage besaß, mehr Segel zu setzen. Doch kam uns in dieser Beziehung der Zufall zu Hilfe. Wir sichteten eine eiserne Bark, die beim Näherkommen die deutsche Flagge hißte. Nachdem wir einige Signale mit dem Schiff gewechselt hatten, entspann sich unverabredet, wie das bei Fahrzeugen mit gleichem Kurs auf hoher See häufig geschieht, ein Wettfahren. Wir beobachteten, daß die Bark Bramsegel setzte. Sofort ließ der Steuermann ebenfalls Bramsegel setzen. Darauf hißte der andere sein Großsegel. Wir taten das gleiche. Da die Eisenbark jedoch größer war und mehr Segel hatte, überholte sie uns und kam gegen Abend außer Sicht.
Ich studierte mitunter in der Bibliothek, die der Koch besaß und die aus einem Taschenatlas und einer deutschen Rechtschreibung bestand; beides für mich recht nützliche Bücher. Auch die Politik kam bei uns zu ihrem Recht. August hielt mitunter lange Vorträge auf diesem Gebiet. »Bismarck«, sagte er, »wollte zwei Parteien, die Reichen und die Armen. Er selbst stand natürlich auf Seiten der Reichen.«
Wir rechneten damit, uns in zwei bis drei Tagen in Liverpool zu amüsieren. Ich hoffte, dort schnell eine Stellung auf einem Fischerboot oder sonstwo zu erlangen.
»Du sagst wohl auch: Gott sei Dank! wenn die Reise fertig ist?« wandte sich der Steuermann an mich.
»Ja«, erwiderte ich offen.
»Willst du nicht nächste Reise wieder mit?«
Aha! dachte ich. Also daher pfeift der Wind.
»Nein, Kapitän will mich gar nicht behalten.«
»O ja, warum nicht?« Steuermann ging. –
Der Sturm nahm noch immer zu. Große Brecher fegten über Deck. Am Sonntag herrschte dicker Nebel, so daß ich mich zum Ausguck mit einem Nebelhorn bewaffnen mußte, ein richtiges Nachtwächterhorn, dessen klägliche Stimme mich in Gedanken auf die Leipziger Messe versetzte. Die ganze Back war unausgesetzt unter Wasser. Wir fuhren bei dem Winde, und das Schiff lag stark über. Ich hatte schauderhafte Zahnschmerzen.
Es war sehr interessant, was ich sah und hörte auf dieser Reise, und ich war voll von neuen Bildern, aber die Bitterkeit, mit der ich meiner drückenden Stellung gedachte, der tiefe Haß, den ich gegen die empfand, die mein Leben dort lenkten, wie sie wollten, verdunkelten alle anderen Gefühle und Gedanken. Ich hätte gern mancherlei, was ich beobachtete, ausführlich niedergeschrieben, aber ich war meistens zu niedergeschlagen und zu ermüdet. Besonders wenn ich auf Wache stand, in den stillen, ungestörten Nachtstunden, verfiel ich in endlose Grübeleien.
»Viele Dampfer, viel Hunger, und der Steuermann schlägt mir eine blaue Nase«, trug ich am Sonntag in mein Tagebuch ein. Wir signalisierten mit einem Dampfer und erkundigten uns, wo wir uns befänden.
Am Montag, dem 16. September um zwölf Uhr, kam Land in Sicht. Am nächsten Abend konnten wir in Liverpool sein. Feuertürme leuchteten in der Nacht. Europa, hurra! Ich verschlang den Streifen Land am Horizont mit glücklichen Blicken.
»Der Bengel ist so neugierig«, sagte August grimmig. Wir trafen nun die zur Landung erforderlichen Vorbereitungen. Anker und Ketten wurden klargemacht, Taue und Lampen bereitgehalten und so weiter.
Steuermann war auf einmal auffallend freundlich. Die Angst vor Rache. Ich war jedoch um so kühler zu ihm. August gab mir stundenlange Ermahnungen, wie ich mich in England verhalten sollte. Besonders warnte er mich vor den Halsabschneidern. Damit bezeichnete er die deutschen Schneider und Schuster, die in Menge die ankommenden Schiffe bestürmen.
Bei guter Brise wahrscheinlich schon heute abend an Land! Hurra! Hurra! Hurra! und nochmals Hurra! Hurra! Hurra!
Wenn's auch viel Arbeit gab, Anker werfen und wieder heben, und wieder werfen und wieder heben, – es winkte ja Land, es winkte nach langer Zeit wieder einmal eine ordentliche Mahlzeit zum Sattessen. Es winkten Briefe von den Angehörigen, und es winkte vielleicht die Heimat selbst. Napoleon schüttelte mir die Hände, und ich griff in überglücklicher Stimmung mit voller Hand in Steuermanns Tabakskasten. Nochmals Hurra!
In der Nacht von Dienstag zu Mittwoch tauchten die ersten Lichter von Liverpool auf. Wieder hatte der Sturm mit plötzlicher Gewalt eingesetzt, und wir mußten alle aufs äußerste aufpassen, um uns zwischen den Bojen, Feuerschiffen und Fahrzeugen aller Art hindurchzusteuern. Es war eine kritische Nacht. Obgleich wir mit größtem Eifer unsere Schuldigkeit taten, klappte doch alles nicht. Wir wurden nach oben geschickt, um die Segel festzumachen, die davonzufliegen drohten. Bei den Marssegeln waren die Zeisinge abgerissen. Wir halfen uns mühsam mit Schümannsgarn, das aber auch nicht gleich zur Stelle war. Ein erregtes Durcheinanderlaufen und Durcheinanderrufen. Einmal rannten wir fast ein Feuerschiff an. Ich hatte gerade den Ausguckposten abgelöst, aber das Feuerschiff noch rechtzeitig gemeldet. Es war also Schuld des Rudermannes, daß wir beinahe kollidierten, aber es war andererseits auch die kaltblütige Geschicklichkeit des Rudermannes, daß wir noch im letzten Moment haarscharf an dem Feuerschiff vorbei kamen.
Kapitän Pommers rauhe Stimme rief: »Klar zum Ankern!«
Der Alte hatte, wie immer in ernsten Momenten, seinen Kalabreser aufgesetzt.
Wir eilten alle unter die Back, wo die Ankerkette in großen Buchten aufgeschossen lag. Segelmacher, Jahn und August bedienten das Spill, irgendein anderer den Stopper. Napoleon, Paul, Hermann und ich standen auf der Kette, um etwaige Verschlingungen derselben beim Auslaufen zu verhindern. Der Raum, in dem wir uns befanden, war düster und so niedrig, daß wir nur gebückt darin hocken konnten.
»Steck' aus!« kommandierte der Kapitän vom Deck her.
Die am Spill ließen den Anker polternd fallen. Die Kette rollte unter unseren Füßen hinweg, und wir mußten scharf aufpassen, um nicht mitgerissen zu werden.
»Stopp!«
Der Anker hielt. Die Kette lag still. Nur zeitweise machte sie ein paar Sprünge.
»Zwölf Faden Wassertiefe!« sang derjenige aus, der auf der Back mit dem Lot hantierte.
»Steck' aus!« – Wieder raste die Kette über die Spillwalze durch die Klüse hinunter.
»Stopp!«
August zog den Bremshebel an, aber das Schiff schoß jetzt in so schneller Fahrt dahin, daß die Kette nicht mehr hielt.
Das war ein aufregender Moment. Wir auf der Kette standen in Gefahr, fortgerissen und durch die enge Klüse gequetscht zu werden. Die Kette, deren Ende nicht, wie das eigentlich sein sollte, befestigt war, mußte in wenigen Sekunden ausgelaufen sein, und abgesehen davon, daß sie ein Vermögen an Wert repräsentierte, wäre das Schiff dann haltlos irgendwo angetrieben.
Der Alte kam aufgeregt unter die Back gestürzt, konnte aber auch nichts machen. Steuermann, der kreideweiß im Gesicht war und den die Verantwortung dafür traf, daß der Kettentamp nicht festgelascht war, schrie wie besessen: »Stopp ab! Stopp ab!«
Aber die Kette rauschte weiter, und schon waren nur noch wenige Buchten übrig. In diesem Moment sprang der alte Segelmacher, der bisher keinen Ton gesagt hatte, der faule, bissige Norweger, plötzlich mit staunenswerter Geschicklichkeit vor, griff blitzschnell die schwere, sausende Kette mit beiden Händen und warf sie kaltblütig zu einer Schlinge über den Spillkopf.
Ein Ruck, und die Kette stoppte. Das Schiff lag still.
Bravo, Segelmacher!
Er grinste aber schon wieder wie gewöhnlich und fletschte grimmig die Zähne.
Als ich an Deck kam, glaubte ich, ein Phantom zu sehen.
Liverpool lag vor uns, ein märchenhaftes Gebirge von vielfarbigen Lichtern. Eine feenhafte Riesenillumination, terrassenförmig aufgebaut. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und es wirkte nach der vorangegangenen Aufregung in der herrlichen Nacht mächtig auf meine Phantasie.
Am