Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10. Inger Gammelgaard Madsen
Читать онлайн книгу.unterbrach der Nachrichtenchef sie. „Dieses Mal aus einem Garten in der Risvang Allé. Nimmst du Flash mit? Ninna muss zu Außenaufnahmen mit Noa Marie.“
„Ja, aber …“
„Jytte kümmert sich um den Terroranschlag.“
Jetzt verstand Anne, worum es bei Jyttes Besprechung mit dem Nachrichtenchef gegangen war.
„Noch ein Baby?!“ Flash erhob sich einsatzbereit und Anne tat es ihm zögerlich gleich. Die Sache mit dem verschwundenen Baby, das in seinem Kinderwagen vor einem Gebäude im Åpark entführt worden war, war vor dem Terroranschlag in Kopenhagen die Topstory gewesen, aber es hatte keine Fortschritte in der Aufklärung gegeben, seit der Kindesvater in Untersuchungshaft genommen worden war. Er stand unter Verdacht aufgrund eines Scheidungsfalls, in dem die Mutter selbstverständlich das Kind haben sollte, was er mit allen Mitteln zu verhindern versucht hatte. Die Mutter des Kindes hatte ihn angezeigt. Er beteuerte seine Unschuld und seitdem war nichts weiter von Bedeutung herausgekommen. Doch nun war also ein weiteres Baby auf die gleiche Weise verschwunden.
Anne nahm ihre Jacke und folgte Flash in die Tiefgarage. Das Auto, mit dem er nach Kopenhagen gefahren war, befand sich wegen der Beulen von den Bombenexplosionen noch in der Werkstatt. Granatsplitter, wie Flash mit einem unpassenden schiefen Grinsen sagte. Er hatte ja auch nicht fast drei Stunden mit den Jugendlichen im Zug gesessen. Anne schauderte, wenn sie daran dachte, wie knapp sie der Katastrophe entronnen waren. Wäre das Auto näher an den Bussen gewesen, dann … Sie hatte Gerüchte gehört, dass sie Hautfetzen und Knochenteile im Kühlergrill des Autos gefunden hatten, wusste aber nicht, ob das stimmte. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich wie eine rostfarbene Schicht auf die Windschutzscheibe gelegt hatte, bevor der Rauch sie eingehüllt hatte.
„Wo in aller Welt sind diese Babys abgeblieben?“, murmelte Flash heiser, als sie aus dem Randersvej mit der Baustelle für die neue Stadtbahn abbogen und den Vejlby Ringvej entlangfuhren. Es klang, als ob er nur irgendetwas sagen wollte, um die Stille zu durchbrechen. Es war das erste Mal, dass sie seit Kopenhagen wieder zusammen fuhren und Anne vermutete, dass sie an das Gleiche dachten. Sie behielt den Stadtbus vor ihnen jedenfalls genau im Auge, als ob das helfen würde; falls er explodierte, würden sie nichts ausrichten können. Sie spürte die Angst wie einen wachsenden Eisklumpen im Magen und hasste sie und die Unsicherheit.
„Vielleicht ist es Zufall, dass jetzt auch ein anderes Baby verschwunden ist.“
„Aber man weiß ja nicht, ob der Vater des ersten schuldig ist. Was, wenn nicht? Wenn nun ein Baby-Kidnapper unterwegs ist?“
Flash hielt vor einem Haus mit gelben Mauersteinen und rotem Ziegeldach, das im Gegensatz zu den beiden Dachbalken älteren Datums neu aussah. In den Fenstern spiegelten sich die Bahnen der weißen Wolken am blauen Himmel.
„Wofür in aller Welt sollte jemand kleine Babys brauchen?“
„Erpressung? Eine Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann? Oder eine Familie vielleicht? Pädophile oder dergleichen mit abwegigen Fantasien und Vorlieben?“
Anne schnallte sich ab und stieg aus. Sie zuckte als Antwort die Schultern und öffnete das Gartentor, das in den Angeln quietschte, und hielt es für Flash auf. Sie stellte fest, dass keine Polizei da war. Die war sicher schon hier gewesen. Journalisten waren auch nicht zu sehen. Sie überlegte, wie lange es wohl her sein mochte, dass das Baby verschwunden war, und schaute in den Garten. Ein Ball mit gelben Punkten lag im Gras neben einem einsamen Schaukelgestell. Sie hatten offenbar mehrere Kinder. In dem Beet entlang des Gartenwegs steckten Fahnen und hellblaue Ballons, die mit Schnüren am Treppengeländer festgebunden waren, wehten leicht im Wind.
Eine festlich gekleidete Frau mit einer Brille in den glatten, grau melierten Haaren machte auf und musterte sie mit einem kritischen Blick. Er wurde nicht milder, als Anne sie vorstellte.
„Meine Tochter hat keine Kraft mehr. Also lassen Sie sie jetzt in Ruhe! Das Telefon hat ununterbrochen geklingelt, sodass wir den Stecker herausziehen und die Handys ausschalten mussten, und mein Schwiegersohn hat gerade einen Haufen aufdringliche Journalisten weggeschickt. Und das ausgerechnet heute! Gehen Sie jetzt bitte und nehmen Sie ein bisschen Rücksicht, ja!“
Die Frau wollte die Tür wieder schließen, aber ein kleines Mädchen stand wie aus dem Nichts im Weg. Es war ungefähr fünf, schätzte Anne. Ein hübsches, helllila Kleid mit Tutu ließ an eine kleine Prinzessin erinnern. Es krümmte die kleinen Zehen in der weißen Strumpfhose und schaute verlegen zu ihr hoch.
„Habt ihr meinen kleinen Bruder gefunden?“, fragte es altklug mit betretener Stimme und gerunzelter Stirn. Die Augen unter den feinen Augenbrauen waren tiefblau und ausdrucksvoll.
„Das ist nicht die Polizei, Schätzchen“, sagte die Frau und versuchte, das kleine Mädchen von der Tür wegzuziehen, aber Anne war in die Hocke gegangen und hatte die volle Aufmerksamkeit des Mädchens.
„Vielleicht können wir dabei helfen, deinen kleinen Bruder zu finden. Wenn wir im Fernsehen von ihm erzählen, kann sich vielleicht jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben.“
Die Frau zog das kleine Mädchen weg. Anne stand auf und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick.
„Wir bekommen genug Hilfe von der Polizei.“
„Vielleicht ist es eine gute Idee, das Fernsehen mit einzubeziehen“, unterbrach eine Stimme und eine junge, kräftige Frau mit wilden roten Haaren, die sie in einem buschigen Pferdeschwanz zu zähmen versuchte, kam heraus und reichte Anne die Hand.
„Ich heiße Karen und bin von der freiwilligen Organisation MCD, Missing Children Denmark. Wir helfen der Familie – und der Polizei natürlich – den kleinen Emil zu finden.“
„Ich habe von Missing People gehört, aber nicht Missing Children“, lächelte Anne und erwiderte den Händedruck.
Die Frau mit der Brille im Haar nahm das kleine Mädchen am Arm und zog sich einige Schritte zurück.
„Das ist auch eine relativ neue Organisation. Um verschwundene Kinder zu finden bedarf es anderer Werkzeuge als bei Erwachsenen. Ich habe zum Beispiel eine pädagogische Ausbildung und das ist ein großer Vorteil, um – ja, wie soll ich das ausdrücken -“ Karen schielte zu der Oma des verschwundenen Babys, die den ganzen Sermon sicher schon gehört hatte. „Ja, dass ich ein bisschen in den gleichen Bahnen denken kann wie das verschwundene Kind. Auf die Weise haben wir schon Kinder gefunden, die an Orten gelandet sind, die niemand vermutet hat.“
Anne sah zu Flash, der hinter ihr auf der Treppe immer noch von einem Bein aufs andere trat. Er hatte die Kamera nicht mitgenommen, da es wichtig war, vorher immer die Zustimmung der Betreffenden einzuholen. Ganz anders als damals, als sie bei der Zeitung gearbeitet hatte, wo fast das Gegenteil der Fall war. Dann wandte sie sich schnell wieder Karen zu.
„Dürfen wir Sie zu Ihrer Arbeit interviewen?“
Karen schaute zu der Frau, die immer noch mit dem Mädchen am Arm hinter ihr stand. Zögernd nickte sie. „Wenn Sie meinen, dass das helfen kann, meinen Enkel zu finden.“
Flash holte die Kamera und machte sie bereit, während Anne mit den anderen ins Wohnzimmer ging. Sie stoppte abrupt, als sie den geschmückten Esstisch mit hellblauen Tauben, kleinen Teddybären, Servietten und blauen Ballons passend zu denen im Garten sah. Es stand auch ein Foto von Emil auf dem Tisch. Er trug ein weißes Taufkleid und ein blaues Band mit seinem silbergestickten Namen. Er lag auf einem weißen Lammfell und sah ein wenig verdutzt aus.
„Emil wurde heute Vormittag getauft. Wir haben die Gäste nach Hause geschickt, als es passierte. Wenn sie ihn nur bald finden“, sagte die Großmutter resignierend, setzte das Mädchen auf dem Boden bei einigen Spielsachen ab und sich selbst an den Tisch neben eine dort sitzende Frau. Sie legte die Arme um ihre Schultern und drückte sie. Anne hatte keinerlei Zweifel, dass dies die Mutter der Kinder war. Es war so deutlich zu sehen an ihrem versteinerten, roten und geschwollenen Gesicht. Der Mann, der aus dem Fenster in den Garten starrte, musste der Vater sein. Er hatte sich nicht umgedreht, als sie hereingekommen waren, sondern stand nur da und starrte, als wartete er darauf, dass der, der seinen