FILM-KONZEPTE 59 - Ulrich Seidl. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Lehrers Karl Schwingenschlögl, der sich eine Ehefrau aus Asien zulegen will und sich zu diesem Zweck mit anderen Männern austauscht, die bereits asiatische Frauen haben, rückt der Regisseur den Konnex aus Liebe/Sex und Neokolonialismus in den Mittelpunkt seines filmischen Interesses, werden die philippinischen Frauen von den österreichischen Männern doch via Agenturen quasi per Katalog bestellt.
1995 markiert Seidls dritter Langfilm, TIERISCHE LIEBE, einen Einschnitt in sein Werk, kann der Film doch getrost als erster Schocker Seidls bezeichnet werden, der bis heute, vor allem aufgrund der recht expliziten Sodomie-Szenen, zu den verstörendsten Seidl-Filmen zählt. TIERISCHE LIEBE, über den Werner Herzog sagte, man habe »niemals so tief in die Hölle gesehen«,5 wie bei diesem Film, zeigt vereinsamte Menschen und ihre tierischen Ansprechpartner, die mitunter ihre Bettgenossen sind. Fungiert die Liebe zu den Tieren hier als Ersatz für menschliche Liebe? Für TIERISCHE LIEBE wurde Seidl jedenfalls heftig kritisiert; die Vorwürfe lauteten: Sozialpornografie und Voyeurismus. Der Österreichische Rundfunk (ORF), der den Film mitproduziert hatte, verweigerte gar die Ausstrahlung. Und in der Tat: TIERISCHE LIEBE zeigt in drastischen Bildern das pervertierte Verhältnis der Menschen zu ihren Tieren und den Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen, ist insofern also ein Film über Menschen, nicht über Tiere, wobei er die Einsamkeit Ersterer nihilistisch darzustellen scheint.
Nach seiner Haltung Menschen gegenüber gefragt, bleibt Seidl letztlich ambivalent. So lassen sich durchaus humanistisch grundierte Aussagen finden, wie etwa die Folgende: »Gerade so prägend wie die katholische Erziehung war die Sympathie zum Kommunismus. Wie gesagt war ich schon immer gegen Heuchelei, falsche Autoritäten und alles, was das Individuum unterdrückt. Das ist gepaart mit einer Vision für ein anderes, besseres Leben, für mehr Würde und Freiheit. Das ist mein stärkster Drang. In meiner Kritik ist diese Vision enthalten. Würde ich das Leben nicht lieben, würde ich mir das nicht antun: solche Filme zu machen.«6 Und auch von anderen wird Seidl und mit ihm sein Werk so interpretiert: »Die Suche nach wirklichen Gefühlen und die Aufmerksamkeit, die Ulrich Seidl dem bizarren, manchmal deformierten Ausdruck dieser Gefühle schenkt, machen diesen Regisseur zu einem großen Humanisten. Er nimmt den einzelnen Menschen, sein Leid und seine Demütigungen ernst, indem er ihn in all seiner Verletzlichkeit und Kreatürlichkeit unverstellt auf der Leinwand zeigt.«7 Doch lassen sich zu dieser Einschätzung auch Gegenstimmen finden, wie etwa eine Beurteilung von GOOD NEWS zeigt: »Trotz dem voyeuristischen Eindringen ins Private bleibt auch hier die gefühlsmäßige Distanz bewahrt – Seidl lässt kein Mitleid zu. Seinem Kino liegt kein humanistischer Antrieb zugrunde. Er solidarisiert sich nicht mit den Schwachen, in deren Niederungen er sich begibt. Er steht nicht auf der Gegenseite; sondern hinter der Kamera.«8 Und auch Seidl selbst, der den »Wahnsinn der Normalität«9 zeigen wolle, scheint angesichts desselben bisweilen resigniert zu haben: »Ich glaube, dass der Mensch nichts lernt. Aus Erfahrungen, aus der Geschichte. Er wird also nicht besser. Deprimierend im Grunde. Das Böse steckt in uns Menschen, und immer, wenn uns Macht gegeben wird – oder anders gesagt: immer, wenn uns durch die Machtverhältnisse Verantwortung abgenommen wird –, dann kommt das Böse raus.«10 Letztlich muss es wohl offen bleiben, ob Seidl, dieser »Voyeur am Wirklichen«,11 dessen Filme der Schauspieler Joseph Bierbichler »Katastrophenfilme«12 nennt, als Existenzialist zu bezeichnen ist.13
Deutlich weniger extrem als TIERISCHE LIEBE sind die folgenden Filme Seidls, die noch stark dem Dokumentarischen verpflichtet sind, wenngleich dies bei Seidl immer ein umstrittener Terminus bleiben wird. 1996 filmt der Regisseur in BILDER EINER AUSSTELLUNG die Reaktionen österreichischer Durchschnittsbesucher auf moderne Kunst. Laien kritisieren Kunstwerke vor laufender Kamera, den Blick dabei jedoch nicht auf die Bilder selbst gerichtet, sondern auf das Objektiv der Kamera, so dass Seidl mit BILDER EINER AUSSTELLUNG einen Kunstreflexionsfilm im doppelten Sinne vorgelegt hat: zum einen über die Gemälde, wobei sich die Reflexionen über jene immer mehr zu Reflexionen über das Leben allgemein auswachsen; und zum anderen über die Rolle des Films selbst, blicken die Zuschauer von BILDER EINER AUSSTELLUNG doch auf die die Gemälde kritisierenden Personen wie auf die Objekte zugleich und werden von diesen wiederum in den Blick genommen.14 Die Bilder im Hintergrund werden immer weniger relevant im Vergleich zu ihren Kritikern; die Filmzuschauer wiederum werden zu Kritikern der Figuren und des Films insgesamt. Mit dieser Thematisierung der Grundfrage »Was ist Kunst?« und damit zugleich der Frage nach dem Kunst-Status von Seidls eigenen Filmen, die sich an jene immer wieder herantragen lässt, nimmt BILDER EINER AUSSTELLUNG eine Sonderstellung im Gesamtwerk des Regisseurs ein. Schließlich sei noch erwähnt, dass in BILDER EINER AUSSTELLUNG René Rupnik seinen ersten Auftritt in einem Seidl-Film hat, der dem Publikum gleich im darauf folgenden Seidl-Film, DER BUSENFREUND aus dem Jahr 1997, wiederbegegnen wird.15 Darin zeigt sich der 50-jährige Mathelehrer Rupnik, der bei seiner alten Mutter lebt, als Messie, häufig halbnackt im Filmbild zu sehen. Rupnik hat eine sonderbare Busenobsession und pflegt eine Fantasiebeziehung zu Senta Berger. Und auch mit DER BUSENFREUND war Seidl nicht vor dem Vorwurf gefeit, seinen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben. Milder scheint er dagegen in SPASS OHNE GRENZEN (1998) vorzugehen: Der Film stellt eine durch Missbrauch und Gewalt in der Familie traumatisierte Frau ins Zentrum, die Freizeitparkbesuchsweltrekordhalterin Dorothea Spohler-Claussen, anhand derer der Regisseur, wie häufig in seinem Gesamtwerk, die Einsamkeit des vereinzelten Menschen in den Mittelpunkt rückt. Der Freizeitpark, Rust bei Freiburg, wird als Fluchtort der Frau inszeniert, eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne.16 Zugleich kritisiert Seidl mit und in SPASS OHNE GRENZEN die westliche Spaßgesellschaft.
In MODELS aus dem Jahr 1998, seinem vierten und zugleich letzten Langfilm vor dem endgültigen Durchbruch, widmet sich Seidl, nach dem Fragment gebliebenen LOOK 84, erneut dem Thema Mode:17 Die Modewelt inszeniert er als eine geschlossene, dominiert von geschönten Körperbildern und einer gleichsam kultischen Fetischisierung des Körpers. Seine Protagonistinnen, drei befreundete Mädchen aus Wien, sehnen sich nach Liebe, einem Mann, der idealen Figur, der großen Karriere auf dem Laufsteg. Dafür sind sie bereit, weit zu gehen, Erbrechen und Koksen inklusive. Mit MODELS werden Seidls Porträts zunehmend fiktional, und obgleich die Kamera hier ganz besonders wie eine Überwachungskamera wirkt, wird auch seine Darstellerführung erkennbarer, so dass davon zu sprechen ist, dass sich Seidl in seinem Werk Ende der 1990er Jahre zunehmend weg vom Dokumentar- und hin zum Spielfilm bewegt. Das Schwanken zwischen dem scheinbar rein Dokumentarischen und dem dokumentarischen Realismus wird fortan zu Seidls Markenzeichen; Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit sind im Grunde seit MODELS der ästhetische Modus und die Signatur Seidls.
Nachdem der Regisseur mit GOOD NEWS erstmals von sich reden machte, gelingt ihm mit HUNDSTAGE (2001) der internationale Durchbruch. Der Film spielt in einer Vorortsiedlung südlich von Wien in drückender Sommerhitze und zeigt an diesem Nicht-Ort18 der Autobahnauffahrten, Einkaufsmärkte und Reihenhaussiedlungen sechs Geschichten der eskalierenden Aggressionen im Milieu der Kleinbürger. Die entstandenen, fotografisch anmutenden Filmbilder19 offenbaren Seidls Interesse für Architektur, Räume und Schauplätze. Die Künstlichkeit der gezeigten Orte kommt dabei vor allem durch Seidls Faible für extreme Symmetrien zum Ausdruck. Obschon der Regisseur auch in HUNDSTAGE vor allem mit Laiendarstellern arbeitet, wird dieser Film als erster reiner Spielfilm Seidls wahrgenommen und auch von ihm selbst als solcher bezeichnet.