Die Illusion der Unbesiegbarkeit. Paul Williams
Читать онлайн книгу.wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen, statt starr am einmal eingeschlagenen Weg festzuhalten (anders als die Incas, die nicht in der Lage waren, den einmal eingeschlagenen, auch religiös motivierten Weg zu verlassen).
6.Bedenken Sie, welche Wirkung Ihre Unternehmensvision auf die verschiedenen Stakeholder hat.
Warum diese Regeln wichtig sind, verdeutlichte einer unserer Interviewpartner:
Gerd Stürz, Life Sciences DACH-Chef von EY, berichtete uns ebenfalls von schlechten Erfahrungen mit reinen Wachstumszielen. Über eine internationale Beratungsgesellschaft, die »Top Line Growth« offiziell zum Unternehmensziel erklärte, sagt er: »Auf einmal war der Fokus nicht mehr primär in der Qualität, sondern der Fokus war auf einmal primär im Wachstum.« Später habe sich das als ein »Sargnagel« der Organisation erwiesen, als deren Glaubwürdigkeit durch die skandalträchtige Insolvenz eines ihrer Kunden erschüttert wurde. In der Außenwahrnehmung war eine verfehlte Unternehmensstrategie mit Fokus auf Growth dafür mitverantwortlich.«
Besser nichts als Bullshit-Bingo
Wenn es so schwierig ist mit der Vision, wieso braucht man dann überhaupt eine? Unserer Erfahrung nach erfüllen Visionen durchaus einen wichtigen Zweck: Sie machen den Mitarbeitern (und nebenbei auch anderen Stakeholdern) ein Sinnangebot und laden dadurch zur Identifikation mit dem Unternehmen ein. Geld verdienen kann man auch anderswo, doch warum sollte man gerade bei dieser Firma arbeiten wollen? In einer Zeit, in der Arbeit für viele Menschen mehr ist als Broterwerb, spricht eine zündende Vision die Einladung aus, an einem verheißungsvollen Projekt teilzunehmen. Einer der Schlüssel für Motivation ist Identifikation. Identifikation wiederum ist eine emotionale Kategorie: Nicht zufällig misst das Gallup-Institut mit seinem bekannten »Engagement-Index« alljährlich die »emotionale Bindung« von Arbeitnehmern an ihren Arbeitgeber.13 Wer das Gefühl hat, an einer »großen Sache« teilzuhaben, legt sich anders ins Zeug als jemand, der sich nur als kleines Rädchen in einer großen Maschinerie sieht. Nichts anderes besagt ja auch die bekannte Geschichte von den drei Steinmetzen beim Bau des Kölner Doms. Auf die Frage nach ihrem Tun antwortet einer mürrisch: »Ich behaue einen Stein.« Ein zweiter sagt, »Ich arbeite, um meine Familie zu ernähren«, und der dritte schließlich erklärt mit leuchtenden Augen: »Ich baue eine Kathedrale!«
Neben Identifikation schafft eine Vision Zusammenhalt, sie stiftet eine Verbindung zwischen Mitarbeitern, womöglich über Kontinente hinweg. Manchmal schlägt sich das auch im Unternehmensjargon nieder, etwa wenn Mitarbeiter bei Google sich über Grenzen hinweg als »Googler« bezeichnen. Je größer ein Unternehmen ist, desto nützlicher ist eine visionäre Klammer, die im Idealfall auch dort ein Gemeinschaftsgefühl stiftet, wo man sich physisch kaum oder nie begegnet. Dass es gerade bei großen Organisationen ein Gefühl der Verbundenheit braucht, um gemeinsam erfolgreich zu sein, war auch Thema in einem unserer Interviews.
Prof. Dr. med. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der BARMER, berichtete uns über seine Arbeit als CEO eines Klinikverbundes: »Ich wurde eingestellt, um aus einem Krankenhauskonzern, der aus lauter einzelnen Kliniken bestand, erstens eine integrierte Einheit zu bilden und zweitens ambulante Einheiten darum herum zu bauen. Das hätte man schaffen können – das schaffen andere ja auch. Trotzdem ist es nicht geglückt, weil man nie an der Identität des Unternehmens gearbeitet hat. Wenn das einzige Prinzip, nach dem ein Unternehmen funktioniert, lautet, ›Jeder für sich und Gott für alle‹, und wenn die Strukturen sogar von oben so angelegt sind, dass die Leute gegeneinander kämpfen müssen, dann verhindert man, dass eine Identität entsteht. Die ganze nach außen getragene Stärke als großer Klinikverbund war intern nicht hinterlegt – weder in der Kultur noch in der Organisation. Als es dann wirtschaftlich eng wurde, fehlte es an gemeinsamen innovativen Geschäftsideen. Die hätte man entwickeln können, doch sie zu entwickeln war nicht in der ›DNA‹ des Unternehmens angelegt.«
Interessant ist dieser Erfahrungsbericht aus zwei Gründen: Zum einen, weil der Hinweis auf die gemeinsame Identität illustriert, wofür eine verbindende Vision gut sein kann. Zum anderen, weil Dr. Straub auch deutlich macht, dass Worte allein nichts bewirken, wenn Führungsverhalten und Unternehmenskultur eher spalten als verbinden. Eine Vision als verhaltenslenkende Absichtserklärung ist sozusagen die offizielle Einladung an die Mitarbeiter. Ob sie angenommen wird, hängt davon ab, ob die tägliche Praxis im Unternehmen aus Sicht der Mitarbeiter der Einladung Glaubwürdigkeit verleiht: »Meinen die das ernst?«, »Passt das zu unseren Werten?« (vgl. Kapitel 4) und »Ist das realistisch?«. Makroebene (Vision) und Mikroebene (tägliches Handeln) – beides muss stimmen und zueinander passen.
Das bedeutet auch: Solange ein Unternehmen noch auf der Suche nach seiner Vision ist und solange ein solcher Leitgedanke sich nicht geradezu aufdrängt, ist schon viel damit gewonnen, kontinuierlich an der Mikroebene im Unternehmen zu arbeiten, um das Engagement der Mitarbeiter zu gewinnen. Hilfreich sind dabei die Leitfragen, anhand derer das Gallup-Institut die »emotionale Bindung« von Mitarbeitern an ein Unternehmen misst und die leider weit weniger häufig zitiert werden als die jährlichen ernüchternden Werte, wie viele Mitarbeiter Dienst nach Vorschrift machen. Wie viele der folgenden Fragen würden Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl bejahen? Je größer die Zustimmung, desto höher das Engagement des Betreffenden. Ein genauer Blick auf die zwölf Gallup-Kriterien offenbart einen Mix von wertschätzendem Führungsverhalten, guter Arbeitsorganisation, Entwicklungsmöglichkeiten und einem fairen, ambitionierten Betriebsklima. Eigentlich kein Hexenwerk. Oder?
Ehe ein Unternehmen blutleere Formeln, austauschbare Floskeln oder Selbstverständlichkeiten zur Vision hochjazzt – kurz: ehe es Bullshit-Bingo betreibt –, verzichtet es besser ganz auf »visionäre« Statements. Das gilt auch für Start-ups. So fesselnd sich die Erfolgsgeschichten von Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Larry Page und Sergey Brin lesen – sie alle starteten nicht als begnadete Visionäre mit einer genialen neuen Idee. »Der Amazon-Boss Jeff Bezos hat den Online-Handel nicht erfunden, die Ebay-Erfinder nicht die Online-Auktionen, die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin nicht die Suchmaschine, Mark Zuckerberg mit Facebook nicht das soziale Netzwerk und die AirBnB-Gründer nicht die private Zimmervermittlung im Netz«, stellt Thomas Range im Magazin Brand eins klar (2015, S. 115). Was die Erfolgsunternehmer eint, ist das Gespür für Kundenwünsche und der systematische, konsequente Ausbau des jeweiligen Geschäftsmodells. Wer länger als zehn Jahre Kunde beim einstigen Buchversender Amazon ist, hat die kontinuierliche Ausdehnung der Produktpalette und der digitalen Dienstleistungen live miterlebt.
Fragen, mit denen das Gallup-Institut die emotionale Bindung von Mitarbeitern misst:
1.Während des letzten Jahres hatte ich bei der Arbeit die Gelegenheit, Neues zu lernen und mich weiterzuentwickeln.
2.In den letzten sechs Monaten hat jemand in der Firma mit mir über meine Fortschritte gesprochen.
3.Ich habe einen sehr guten Freund / eine sehr gute Freundin innerhalb der Firma.
4.Meine Kollegen / Kolleginnen haben einen inneren Antrieb, Arbeit von hoher Qualität zu leisten.
5.Die Ziele und die Unternehmensphilosophie meiner Firma geben mir das Gefühl, dass meine Arbeit wichtig ist.
6.Bei der Arbeit scheinen meine Meinungen zu zählen.
7.Bei der Arbeit gibt es jemanden, der mich in meiner Entwicklung fördert.
8.Mein Vorgesetzter / Meine Vorgesetzte oder eine andere Person bei der Arbeit interessiert sich für mich als Mensch.
9.Ich habe in den letzten sieben Tagen für gute Arbeit Anerkennung oder Lob bekommen.
10.Ich habe bei der Arbeit jeden Tag die Gelegenheit, das zu tun, was ich am besten kann.
11.Ich habe die Materialien und die Arbeitsmittel, um meine Arbeit richtig zu machen.
12.Ich weiß, was bei der Arbeit von mir erwartet wird.
(QUELLE: GALLUP 2016, S. 10)
Fazit: